Die Wahrheit über Alice
Es war wahrscheinlich eine idiotische Idee, dieses Treffen einzufädeln, aber Robbie kann
doch nicht ernsthaft erwarten, dass ich nie wieder …» Er verstummt und wirft einen sehnsüchtigen Blick zur Tür, durch die Alice eben geflüchtet ist. Er seufzt. «Ich sehe Rachel
vermutlich nie wieder. Nicht nach dieser Sache hier.»
Ich schaue zu ihm hoch. «Sie heißt nicht Rachel.» Obwohl mir vor Nervosität fast schlecht ist, klingt meine Stimme fest und
viel kräftiger, als ich gedacht hatte.
«Was?» Er lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkt abwehrend die Arme vor der Brust. «Was haben Sie gesagt?»
Und dann erzähle ich, soviel ich kann, so rasch ich kann und so zusammenhängend ich kann. Er glaubt mir zunächst nicht. Er
schüttelt immer wieder den Kopf und sagt: «Ausgeschlossen, das kann gar nicht sein», doch schließlich protestiert er nicht
mehr und wird immer stiller und trauriger.
«Ich habe von Alice gewusst, natürlich», sagt er. «Aber nicht viel. Robbie hat sie mir nie vorgestellt. Ich hatte immer |222| das Gefühl, das zwischen den beiden wäre eine eher lockere Geschichte. Hätte ich sie doch bloß vorher kennengelernt. Das ist
alles meine Schuld. Ich hätte darauf bestehen müssen. Ich hätte mehr Interesse zeigen müssen. Aber ich hab gedacht, ich tue
das Richtige, wenn ich seine Privatsphäre respektiere.» Er vergräbt das Gesicht in den Händen. «Das hätte nicht passieren
dürfen. Das hätte niemals passieren dürfen.»
«Es ist nicht Ihre Schuld. Wirklich nicht. Es ist Alice’ Schuld. Sie macht so was.»
«Aber warum?», fragt er. «Warum?»
Ich schweige. Ich habe keine Antwort darauf.
«Sie hat gesagt, sie wäre siebenundzwanzig», sagt er leise, fast flüsternd. «Und ich habe ihr geglaubt. Sie hat so selbstsicher
gewirkt, so reif. Ich fass es nicht … achtzehn? Großer Gott. Ich hab ihr geglaubt, ich hab alles geglaubt. Ich war drauf und dran, mich in sie zu verlieben.»
|223| 29
I ch erzähle Mick nicht sofort von der Sache mit Alice. Ich will die Zeit mit ihm nicht damit vergiften, dass ich über sie
nachdenke oder über sie rede, also warte ich, bis er am Abend danach zu einem Auftritt gefahren ist, ehe ich Robbie anrufe.
So besteht keine Gefahr, dass er von unserem Gespräch irgendwas aufschnappt.
Greg geht ans Telefon.
«Er ist weg, Katherine.» Er klingt müde und niedergeschmettert.
«Weg? Wohin?»
«Nach Europa. In die Schweiz. Er ist heute Nachmittag geflogen. Er will sich dort Arbeit suchen. Als Skilehrer. Wir haben
Verwandte da.»
«Was ist mit der Party?», frage ich albernerweise, als wäre eine Party jetzt noch wichtig. «Was ist mit seinem Job?»
Greg lacht traurig. «Die Party fällt aus. Und das Restaurant kommt ganz sicher auch ohne ihn klar. Die haben ja reichlich
Personal.»
Greg beruhigt mich, dass Robbie schon drüber wegkommen wird, dass er stark ist und widerstandsfähig. Er schlägt vor, ihm ein
bisschen Zeit zu lassen, um seine Wunden zu lecken, um die Demütigung zu verkraften, die die ganze Sache für ihn bedeutet,
und ihm dann eine E-Mail zu schicken. Ehe er auflegt, sagt er noch, ich solle mir keine Sorgen machen, es werde schon alles gut.
|224| Und obwohl ich immer noch entsetzt bin über Alice’ Verhalten und sich mir immer noch der Magen umdreht, wenn ich an den Abend
zuvor denke, bin ich insgeheim froh, dass Robbie endlich die Wahrheit erkannt hat. Jetzt wird er sich mit Sicherheit nie wieder
auf Alice einlassen. Und er ist weit weg in Europa. Auf der anderen Seite des Globus. Er ist in Sicherheit. Frei.
Ich schalte mein Handy aus und beschließe, es auch eine Weile ausgeschaltet zu lassen, damit Alice mich nicht erreichen kann.
Ich will nicht an sie denken und schon gar nicht mit ihr reden. Ich will ihre Erklärungen und Entschuldigungen gar nicht hören.
Eine Woche lang lasse ich das Handy ausgeschaltet, und die Zeit vergeht in einem glücklichen Rausch aus Gigs am späten Abend
und verschlafenen Vormittagen. Aber der Gedanke an Alice geht mir nicht aus dem Kopf, und so unangenehm es mir auch ist, weiß
ich doch, dass ich irgendwann mit ihr werde sprechen müssen. Es wäre so leicht, ihr einfach aus dem Weg zu gehen, bis sie
ihre Kontaktversuche aufgibt, so leicht, kein Wort mehr mit ihr zu reden. Aber ich muss ihr meine Meinung sagen, meinen Zorn
zum Ausdruck bringen, und ich muss Robbies Partei ergreifen. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass sie weiter
Weitere Kostenlose Bücher