Die Wahrheit über Alice
Rachel. Rachel, das ist mein Sohn, Robbie.» Robbies Vater bemüht sich, so zu tun, als wäre alles ganz normal, |219| aber ich sehe ihm an, dass ihn Robbies Verhalten, das ihm äußerst merkwürdig vorkommen muss, verwirrt und verärgert hat. Er
hat offensichtlich keine Ahnung, wer Alice in Wirklichkeit ist.
Robbie sagt kein Wort und reagiert überhaupt nicht auf die Worte seine Vaters. Er starrt einfach nur Alice an. Sein Gesicht
ist vor Wut und Schmerz fast bis zur Unkenntlichkeit verzerrt.
«Ach, komm, Robbie», sagt Alice. «Nun guck nicht so ernst. Wo ist dein Sinn für Humor geblieben?»
Robbies Vater starrt Alice an und dann Robbie und wieder Alice. Der vertrauliche Ton von Alice’ Stimme verwirrt ihn offenbar.
«Was? Kennt ihr beiden …?»
Er hat keine Zeit, die Frage zu beenden. Robbie gibt einen schrecklichen schluchzenden Laut von sich, dreht sich um und stürmt
aus dem Restaurant.
«Robbie! Warte!» Ich laufe ein paar Schritte hinter ihm her, merke aber gleich, dass er viel zu schnell ist. Außerdem steht
meine Tasche an unserem Tisch, und bezahlt haben wir auch noch nicht. Ich sehe ihm nach, drehe mich dann widerwillig um und
gehe zurück zu Alice und Robbies Vater. Ich will nicht hierbleiben und mich mit dieser grässlichen Situation auseinandersetzen.
Am liebsten würde ich einfach meine Tasche holen, bezahlen und gehen, schnurstracks zu Mick nach Hause. Ich will nicht mit
Alice reden. Ich will ihr Gesicht nicht sehen und ihre Stimme nicht hören. Ich will nicht hören, wie Robbies Vater sie Rachel
nennt.
Robbies Vater sieht verstört aus. Sein Gesicht ist bleich, seine Augen groß und feucht.
«Was hat das alles zu bedeuten», fragt er, als ich näher komme. «Können Sie sich das erklären?»
Ich blicke zu Boden und schweige.
«Verzeihen Sie», sagt er seufzend, und ich kann das Beben |220| in seiner Stimme hören. «Wie unhöflich von mir. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Sie müssen Katherine sein. Robbie
hat mir schon viel von Ihnen erzählt. Ich bin Greg. Und das ist Rachel.»
Greg und ich geben uns die Hand, aber ich weigere mich, Alice anzuschauen oder sonst irgendwie auf sie zu reagieren. Und als
sie etwas sagt, wende ich mich ab.
«Ich glaube, ich geh lieber», sagt sie.
«Was bin ich bloß für ein Idiot», sagt Greg. «Ich hab gedacht, das wäre eine nette Gelegenheit, euch beide einander vorzustellen.
Ich wusste, dass Robbie heute Abend hierher wollte. Ich hab dir absichtlich nichts gesagt. Ich hab auch Robbie nichts gesagt.
Ich dachte, es wäre nett … keine Ahnung, einfach so zu tun, als würden wir uns ganz zufällig treffen, damit ihr euch kennenlernt, ganz unverkrampft.
Ich konnte doch nicht ahnen, dass er so reagieren würde, er ist normalerweise ein so toller Junge, ich … Es tut mir leid, Rachel, ich hätte es dir sagen sollen.»
«Nein. Bitte. Entschuldige dich nicht», sagt sie, und ihre Stimme klingt anders als sonst. Sie hört sich älter an, beherrschter,
und ich staune über ihre raffinierte Täuschung. Doch trotz der gespielten Reife nehme ich in ihrer Stimme einen gehetzten
und ungeduldigen Unterton wahr. Sie will so schnell wie möglich weg hier. Sie hat dieses Chaos angerichtet, und jetzt will
sie die Flucht ergreifen und mir das Aufräumen überlassen. Und am liebsten würde ich die Wahrheit ausspucken, ehe Alice sich
aus dem Staub machen kann, ich möchte sie zwingen, hierzubleiben und alles zu gestehen und die Konsequenzen zu tragen. Aber
ich rechne nicht damit, dass sie ehrlich oder fair zu Greg sein wird, und er kann schließlich nichts dafür. Er ist belogen
worden, manipuliert. Er hat eine Erklärung verdient.
«Ich komme mit», sagt er.
|221| «Nein, nein», sagt sie. «Ich würde lieber einfach gehen, ehrlich gesagt. Eine Weile allein sein.»
Und als sie sich voneinander verabschieden, muss ich mich abwenden. Ich kann Gregs arglose Zärtlichkeit ihr gegenüber, seinen
reumütigen Versuch, alles wiedergutzumachen, nicht mit ansehen. Und als ich höre, wie er sie Rachel nennt, würde ich am liebsten
losschreien.
Als sie gegangen ist, überrede ich Greg, noch für einen Augenblick mit mir an den Tisch zu kommen. Wir setzen uns einander
gegenüber. Ich bin still und blicke auf meine Hände. Ich weiß nicht, womit ich beginnen soll. Wie bricht man jemand anderem
das Herz?
«Ich kann es nicht fassen», fängt er schließlich an. «Aus gerechnet jetzt, wo sich alles so gut anließ.
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