Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
wenn Sie geflohen wären?«
»Dann wäre ich ein Schriftsteller im Exil gewesen oder vielleicht auch gar kein Schriftsteller. Das hatte damals keine Bedeutung mehr. Es zählte nur Nola. Nola war meine Welt. Alles andere war nicht weiter wichtig.«
Ich war baff. Das war also der hirnverbrannte Plan gewesen, den sich Harry vor über dreißig Jahren ausgedacht hatte: mit dem Mädchen, in das er unsterblich verliebt war, nach Kanada durchbrennen. Mit Nola fortgehen und ein zurückgezogenes Leben am Ufer eines Sees führen – nicht ahnend, dass Nola am Abend der Flucht verschwinden und ermordet werden würde und das Buch, das er in Rekordzeit geschrieben hatte und auf das zu verzichten er bereit war, einer der größten Verkaufserfolge der letzten fünfzig Jahre werden sollte.
Bei unserer zweiten Begegnung schilderte mir Nancy Hattaway die Woche auf Martha’s Vineyard aus ihrer Perspektive. Sie berichtete, dass sie mit Nola in der Woche nach ihrer Heimkehr aus dem Erholungsheim in Charlotte’s Hill jeden Tag am Grand Beach schwimmen gegangen und Nola danach mehrmals zum Abendessen mit zu ihr gekommen war. Als Nancy jedoch am darauffolgenden Montag in der Terrace Avenue 245 klingelte, um Nola wie in den Tagen zuvor zum Strand abzuholen, wurde ihr mitgeteilt, dass Nola sehr krank sei und das Bett hüten müsse.
»Die ganze Woche dieselbe Leier«, sagte Nancy. »›Nola ist so krank, dass sie keinen Besuch bekommen darf.‹ Selbst meine Mutter, die neugierig geworden war und sich nach Nola erkundigen wollte, kam bei ihr zu Hause nicht über die Türschwelle. Mich hat das verrückt gemacht. Ich habe gespürt, dass da etwas nicht stimmte. Und dann wurde mir klar: Nola ist abgehauen.«
»Wie kamen Sie darauf? Sie hätte doch tatsächlich krank und bettlägerig sein können …«
»Meiner Mutter war damals aufgefallen, dass keine Musik mehr lief. Die ganze Woche über war nicht einmal Musik zu hören.«
Ich spielte den Advocatus Diaboli: »Wenn sie krank war«, gab ich zu bedenken, »sollte sie vielleicht nicht durch die Musik gestört werden.«
»Es war das erste Mal seit Ewigkeiten, dass keine Musik lief. Das war absolut ungewöhnlich. Ich wollte wissen, was los war, und nachdem ich mir zum x-ten Mal angehört hatte, dass Nola krank sei und im Bett liege, habe ich mich hinters Haus geschlichen und durch Nolas Fenster gespäht: Ihr Zimmer war leer, das Bett unberührt. Nola war nicht da, so viel stand fest. Und dann lief am Sonntagabend plötzlich wieder Musik: Aus der Garage dröhnte diese verfluchte Musik, und am nächsten Tag ist Nola wieder bei mir aufgetaucht. Halten Sie das für Zufall? Sie ist gegen Abend zu mir gekommen, und wir sind zu dem kleinen Park in der Hauptstraße gegangen. Dort musste ich ihr die Wörter einzeln aus der Nase ziehen, vor allem was die Striemen auf ihrem Rücken anging: Ich habe sie gezwungen, im Gebüsch ihr Kleid hochzuheben, und da habe ich gesehen, dass man sie brutal geprügelt hatte. Ich habe darauf bestanden, dass sie mir erzählte, was passiert war, und am Ende hat sie mir gestanden, dass man sie geschlagen hatte, weil sie eine ganze Woche weg gewesen war. Sie war mit einem Mann weg gewesen, einem viel älteren Mann. Bestimmt mit Stern. Sie hat gesagt, dass es wunderschön und die Schläge wert gewesen sei, die sie nach ihrer Heimkehr kassiert hatte.«
Ich hütete mich, Nancy darüber aufzuklären, dass Nola mit Harry und nicht mit Elijah Stern auf Martha’s Vineyard gewesen war. Viel mehr schien sie nicht über die Beziehung zwischen Nola und Letzterem zu wissen.
»Ich glaube, das mit Stern war irgendetwas Unanständiges«, fuhr sie fort. »Jedenfalls kommt es mir im Rückblick so vor. Luther Caleb hat sie immer in einem blauen Mustang in Aurora abgeholt. Ich weiß, dass er sie zu Stern gebracht hat. Das geschah natürlich alles heimlich, aber einmal habe ich es mit eigenen Augen gesehen. Nola hat damals zu mir gesagt: ›Rede bloß nie darüber! Schwör es bei unserer Freundschaft! Sonst kriegen wir beide Ärger.‹ Ich habe gesagt: ›Aber Nola, warum gehst du zu dem alten Knacker?‹ Und sie hat geantwortet: ›Aus Liebe.‹«
»Wann hat das angefangen?«, wollte ich wissen.
»Keine Ahnung. Ich habe im Sommer davon erfahren, aber wann genau, weiß ich nicht mehr. In jenem Sommer ist so viel passiert. Vielleicht ging diese Geschichte schon länger, vielleicht schon seit Jahren, wer weiß.«
»Aber später haben Sie doch mit jemandem darüber gesprochen, nämlich
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