Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
Vom Netzwerk:
eine Mahlzeit ausgelassen oder Schokoriegel zu Abend gegessen hatte, wurde sie böse. Was für entzückende Wutanfälle das waren! Ich wünschte, ihre sanften Zornausbrüche hätten mich mein Leben lang bei meinem Tun begleitet.«
    »Sie haben Der Ursprung des Übels also tatsächlich in ein paar Wochen geschrieben?«
    »Ja. Ich war in einer Art Schaffensrausch, wie ich ihn seither nie wieder erlebt habe. Ob die Liebe ihn ausgelöst hatte? Hundertprozentig. Ich glaube, als Nola verschwunden ist, ist ein Teil meines Talents mit ihr verschwunden. Jetzt verstehen Sie, warum ich Sie inständig bitte, nicht gleich zu verzweifeln, wenn es Ihnen mal schwerfällt, Ihre Inspiration zu finden.«
    Ein Wärter informierte uns, dass die Besuchszeit zu Ende ging, und forderte uns auf, zum Schluss zu kommen.
    »Sie haben vorhin gesagt, dass Nola das Manuskript oft mit nach Hause genommen hat«, sagte ich rasch noch, um diesen Faden nicht zu verlieren.
    »Sie nahm den Teil mit, den sie abgetippt hatte. Dann las sie ihn und sagte mir ihre Meinung dazu. Marcus, jener August 1975 – das war das Paradies. Ich war damals so glücklich. Wir waren beide so glücklich. Trotzdem ließ mir der Gedanke keine Ruhe, dass jemand über uns Bescheid wusste. Jemand, der so weit ging, einen Spiegel mit Ungeheuerlichkeiten vollzuschmieren. Dieser Jemand konnte uns auch vom Wald aus beobachten und alles sehen. Diese Vorstellung machte mich krank.«
    »War das der Grund, weshalb Sie fortgehen wollten? Oder warum hatten Sie für den Abend des 30. August gemeinsam die Flucht geplant?«
    »Das wiederum, Marcus, hing mit einer ganz schrecklichen Sache zusammen. Nehmen Sie das auf?«
    »Ja.«
    »Ich werde Ihnen jetzt etwas sehr Schlimmes erzählen, damit Sie alles verstehen. Aber ich möchte nicht, dass es bekannt wird.«
    »Sie können sich auf mich verlassen.«
    »Nun, als wir die Woche nach Martha’s Vineyard gefahren waren, hatte Nola ihren Eltern vorher nicht etwa erzählt, dass sie bei einer Freundin wäre, sondern war einfach abgehauen. Sie war weggelaufen, ohne irgendwem Bescheid zu sagen. Als ich sie am Tag nach unserer Rückkehr wiedergesehen habe, wirkte sie furchtbar traurig. Sie hat zu mir gesagt, dass ihre Mutter sie geschlagen habe. Ihr Körper war mit Striemen übersät, und sie weinte. An jenem Tag hat sie mir erzählt, dass ihre Mutter sie auch wegen Nichtigkeiten bestrafte, sie mit einem Eisenlineal schlug und mit ihr auch diese scheußliche Sache machte wie heutzutage in Guantánamo, dieses simulierte Ertränken. Sie füllte ein Waschbecken mit Wasser, packte ihre Tochter an den Haaren und tauchte ihren Kopf unter – angeblich, um sie zu erlösen.«
    »Zu erlösen?«
    »Ja, vom Bösen. Eine Art Taufe, schätze ich. Wie Jesus im Jordan oder so etwas. Zunächst konnte ich es gar nicht glauben, aber die Beweise waren nicht zu übersehen. Ich habe sie gefragt: ›Wer hat dir das angetan?‹ – ›Mutter.‹ – ›Und warum unternimmt dein Vater nichts dagegen?‹ – ›Der verkriecht sich in der Garage und hört laute Musik. Das macht er immer, wenn Mutter mich bestraft. Er will es nicht mitkriegen.‹ Nola konnte nicht mehr, Marcus, sie konnte einfach nicht mehr. Ich wollte zu den Kellergans gehen und die Sache klären. Das musste ein Ende haben. Aber Nola hat mich angefleht, nichts zu unternehmen. Sie hat gesagt, sie würde schrecklichen Ärger bekommen, ihre Eltern würden sie bestimmt aus der Stadt schaffen, und dann würden wir uns nie wiedersehen. Trotzdem konnte es nicht so weitergehen. Deshalb haben wir Ende August, um den 20. herum, beschlossen, dass wir fortgehen mussten. Und zwar bald. Und natürlich heimlich. Als Datum haben wir den 30. August festgelegt. Wir wollten in Vermont über die Grenze nach Kanada, vielleicht nach British Columbia, um dort in einer Holzhütte an einem Seeufer zu wohnen, und dort einfach glücklich zu sein. Niemand hätte je etwas erfahren.«
    »Das war der Grund, weshalb Sie zusammen durchbrennen wollten?«
    »Ja.«
    »Und warum soll ich nicht darüber reden?«
    »Weil das erst der Anfang ist, Marcus. Kurz darauf habe ich nämlich etwas Schreckliches über Nolas Mutter herausgefunden …«
    In diesem Augenblick wurden wir von dem Wärter unterbrochen. Die Besuchszeit war zu Ende.
    »Wir setzen das Gespräch nächstes Mal fort, Marcus«, sagte Harry beim Aufstehen. »Bis dahin behalten Sie das unbedingt für sich.«
    »Versprochen, Harry. Sagen Sie mir nur noch eines: Was wäre aus dem Buch geworden,

Weitere Kostenlose Bücher