Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
»Wirklich?«
»Ich werde da sein, ich verspreche es.«
»Versprechen reicht nicht, Harry. Schwören Sie es, schwören Sie bei unserer Liebe, dass Sie mich nicht verlassen werden.«
»Ich schwöre es, Nola.«
Er log, weil es sonst zu kompliziert geworden wäre. Kaum war Nola um die Straßenecke gebogen, fuhr er schnell nach Goose Cove weiter. Er musste sich beeilen, denn er wollte nicht riskieren, dass sie später zu ihm kam und ihn bei seiner Flucht überraschte. Noch an diesem Abend wäre er bereits in Boston. Zu Hause packte er hastig seine Sachen zusammen, stapelte sein Gepäck im Kofferraum seines Wagens und warf alles andere, was mitgenommen werden musste, auf die Rückbank. Dann schloss er die Fensterläden und stellte Gas, Wasser und Strom ab. Er war auf der Flucht, auf der Flucht vor der Liebe.
Er wollte ihr eine Nachricht hinterlassen. Eilig kritzelte er die Worte Allerliebste Nola, ich musste fortgehen. Ich schreibe Dir. Ich werde Dich immer lieben. auf ein Stück Papier und steckte es in den Türrahmen. Dann jedoch zog er es wieder heraus aus Angst, jemand anders könnte es finden. Keine Nachricht, das war sicherer. Er sperrte die Tür ab, stieg in den Wagen und raste davon. Er floh Hals über Kopf. Adieu, Goose Cove, adieu, New Hampshire, adieu, Nola.
Es war vorbei. Für immer.
17.
Fluchtversuch
»Sie müssen an Ihre Texte herangehen wie an einen Boxkampf, Marcus: In den Tagen vor dem Kampf sollte man nur auf siebzig Prozent seiner Leistungsfähigkeit trainieren, um in seinem Innern diese Wut köcheln und aufsteigen zu lassen, die man erst am Abend des Kampfes aus sich herausbrechen lässt.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wenn Sie eine Idee haben, dürfen Sie daraus nicht sofort eine Ihrer unlesbaren Kurzgeschichten machen, die Sie dann auf der ersten Seite der von Ihnen herausgegebenen Zeitung veröffentlichen, sondern Sie müssen sie mit sich herumtragen und reifen lassen. Sie müssen verhindern, dass sie herauskommt, Sie müssen sie in Ihrem Innern wachsen lassen, bis Sie spüren, dass der Zeitpunkt da ist. Das ist jetzt Nummer … Wo sind wir?«
»Bei 18.«
»Nein, bei 17.«
»Warum fragen Sie mich, wenn Sie es sowieso wissen?«
»Um zu sehen, ob Sie mitdenken, Marcus.«
»Also dann 17, Harry. Aus Ideen …«
»… Erleuchtungen machen.«
Am Dienstag, den 1. Juli 2008, erzählte mir Harry, dem ich im Besuchsraum des Staatsgefängnisses von New Hampshire gebannt zuhörte, wie er Aurora am Abend des 3. August 1975 gerade hinter sich lassen wollte und die Route 1 entlangraste, als ein entgegenkommender Wagen plötzlich kehrtmachte und seine Verfolgung aufnahm.
Sonntag, 3. August 1975
Im ersten Moment glaubte er, es sei ein Polizeiauto, aber es hatte weder Blaulicht noch Sirene. Das Fahrzeug fuhr hupend dicht auf. Harry konnte sich keinen Reim darauf machen und fürchtete, Opfer eines Raubüberfalls zu werden. Er trat das Gaspedal voll durch, doch sein Verfolger überholte ihn trotzdem und zwang ihn am Straßenrand zum Halten, indem er sich quer stellte und ihm den Weg versperrte. Angriffslustig sprang Harry aus dem Wagen, als er plötzlich Sterns Fahrer Luther Caleb erkannte, der seinerseits aus dem Wagen stieg.
»Sind Sie total bescheuert?«, schrie Harry.
»Bitte entfuldigen Fie, Mifter Quebert. Ich wollte Ihnen keine Angft einjagen. Mifter Ftern will Fie unbedingt fehen. Ich fuche Fie fon feit Tagen.«
»Und was will Mr Stern von mir?«
Harry zitterte. Sein Herz flatterte vor lauter Adrenalin.
»Daf weif ich nicht, Fir«, antwortete Luther. »Aber er hat gefagt, daff ef wichtig ift. Er erwartet Fie bei fich fu Haufe.«
Da Luther nicht lockerließ, willigte Harry widerstrebend ein, ihm nach Concord zu folgen. Es wurde bereits dunkel. Sie fuhren zu Sterns riesigem Anwesen, wo Caleb Harry wortlos ins Haus und zu einer großen Terrasse führte. Dort saß Elijah Stern, mit einem leichten Schlafrock bekleidet, an einem Tisch und trank ein Zitronenwasser. Als er Harry sah, erhob er sich und ging ihm entgegen. Er schien erleichtert, ihn zu sehen. »Großer Gott, mein lieber Harry, ich dachte schon, ich finde Sie nie! Danke, dass Sie zu dieser späten Stunde hierhergekommen sind. Ich habe bei Ihnen angerufen, Ihnen geschrieben und Luther jeden Tag zu Ihnen geschickt, aber Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Wo zum Teufel haben Sie gesteckt?«
»Ich war nicht in der Stadt. Was ist denn so dringend?«
»Ich weiß alles, Harry! Alles! Und Sie wollten die Wahrheit vor mir
Weitere Kostenlose Bücher