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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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einzukreisen, traf auf ihn zu.
    »Was ist mit Luther Caleb?«, fragte ich mit einem Fünkchen Hoffnung. »Was für einen Wagen fuhr er?«
    Gahalowood schüttelte den Kopf. »Einen blauen Mustang«, antwortete er.
    Ich seufzte. »Was sollen wir Ihrer Meinung nach jetzt tun, Sergeant?«
    »Da wäre immer noch Calebs Schwester, die wir noch nicht befragt haben. Ich glaube, es ist an der Zeit, ihr einen Besuch abzustatten. Sie ist die einzige Fährte, die wir noch nicht weiterverfolgt haben.«
    An diesem Abend nahm ich nach dem Boxtraining meinen ganzen Mut zusammen und fuhr zum Sea Side Motel. Es war ungefähr einundzwanzig Uhr dreißig. Harry saß auf einem Plastikstuhl vor Zimmer 8, um den milden Abend zu genießen, und trank eine Dose Cola. Bei meinem Anblick sagte er kein Wort. Zum ersten Mal fühlte ich mich in seiner Gegenwart unwohl.
    »Ich musste Sie einfach sehen, Harry. Ich wollte Ihnen sagen, wie leid mir das alles tut …«
    Er bot mir mit einer Geste den Stuhl neben sich an. »Cola?«, schlug er vor.
    »Gern.«
    »Der Automat steht am Ende des Gangs.«
    Ich grinste und ging mir eine Cola light holen. Als ich zurückkam, sagte ich: »Das haben Sie auch zu mir gesagt, als ich zum ersten Mal nach Goose Cove gekommen bin. Ich war damals das erste Jahr auf dem College. Sie hatten Zitronenlimonade gemacht und mich gefragt, ob ich welche möchte, und als ich Ja sagte, haben Sie geantwortet, ich soll sie mir aus dem Kühlschrank holen.«
    »Das waren schöne Zeiten.«
    »Stimmt.«
    »Was hat sich seitdem verändert, Marcus?«
    »Nichts. Alles und nichts. Wir haben uns alle verändert, die Welt hat sich verändert. Das World Trade Center ist eingestürzt, Amerika ist in den Krieg gezogen … Aber an meiner Achtung vor Ihnen hat sich nichts geändert. Sie sind immer noch mein Lehrmeister, Sie sind immer noch Harry.«
    »Auch der Kampf zwischen Lehrer und Schüler hat sich verändert, Marcus.«
    »Wir bekämpfen uns doch gar nicht.«
    »Doch, das tun wir! Ich habe Sie gelehrt, Bücher zu schreiben, und schauen Sie, was Ihre Bücher machen: Sie schaden mir.«
    »Ich wollte Ihnen nie schaden, Harry. Wir werden den Kerl schnappen, der Goose Cove niedergebrannt hat, das verspreche ich Ihnen.«
    »Als ob mir das die dreißig Jahre voller Erinnerungen zurückbringen würde, die ich verloren habe! Mein ganzes Leben ist in Rauch aufgegangen! Warum haben Sie diese unsäglichen Dinge über Nola geschrieben?«
    Ich antwortete nicht darauf. Wir schwiegen eine Weile. Trotz des trüben Lichts der Wandleuchten fielen ihm die Abschürfungen an meinen Fäusten auf, die ich mir beim Einschlagen auf den Sandsack zugezogen hatte.
    »Was ist mit Ihren Händen?«, fragte er. »Haben Sie wieder mit dem Boxen angefangen?«
    »Ja.«
    »Ihre Handhaltung stimmt nicht. Das war schon immer Ihr Manko. Sie haben einen guten Schlag, aber das erste Glied Ihres Mittelfingers steht zu weit vor, deshalb wird er beim Zuschlagen aufgeschürft.«
    »Boxen wir«, schlug ich vor.
    »Wenn Sie wollen.«
    Wir zogen die Hemden aus und stellten uns mit nacktem Oberkörper auf den verlassenen Parkplatz. Harry war stark abgemagert. Er betrachtete mich einen Moment und sagte dann: »Sie sehen prächtig aus, Marcus. Heiraten Sie endlich, verdammt noch mal! Fangen Sie an zu leben!«
    »Erst muss ich die Ermittlungen abschließen.«
    »Zum Teufel mit Ihren Ermittlungen!«
    Wir stellten uns einander gegenüber auf und machten abwechselnd ein paar Haken: Der eine schlug zu, der andere musste seine Deckung wahren und sich schützen. Harry schlug hart zu.
    »Wollen Sie nicht wissen, wer Nola getötet hat?«, fragte ich.
    Er hörte abrupt auf. »Wissen Sie es denn?«
    »Nein. Aber die Hinweise verdichten sich. Sergeant Gahalowood und ich fahren morgen zu Luther Calebs Schwester nach Portland. Und es gibt noch ein paar Personen in Aurora, die wir befragen müssen.«
    »Aurora … Seit ich aus dem Gefängnis entlassen wurde, habe ich niemanden mehr aus Aurora gesehen. Neulich stand ich eine Weile vor meinem zerstörten Haus. Ein Feuerwehrmann meinte, ich könnte hineingehen. Also habe ich ein paar Sachen herausgeholt und bin zu Fuß hergegangen. Seitdem habe ich mich hier nicht weggerührt. Roth kümmert sich um den Versicherungskram und so weiter. In Aurora kann ich mich nicht mehr blicken lassen. Ich kann den Leuten dort nicht mehr in die Augen sehen und ihnen sagen, dass ich Nola geliebt und für sie ein Buch geschrieben habe. Ich kann mir ja nicht einmal mehr selbst ins

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