Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Sport, Wissenschaften und Kameradschaftlichkeit, auf der Ehrenliste stand, die ich insgeheim in »Entehrtenliste« umbenannt hatte, da ich mir meiner Hochstapelei durchaus bewusst war. Aber ich konnte nicht mehr aufhören; ich war wie besessen. Eine Woche später brach ich den Rekord beim Verkaufen der Tombolalose, indem ich die Lose mit dem Geld, das ich mir in den beiden zurückliegenden Sommern mit Mülleinsammeln auf der Wiese des Gemeindeschwimmbads verdient hatte, samt und sonders selbst kaufte. Mehr brauchte es nicht, und kurz darauf ging in der Highschool das Gerücht um: Marcus Goldman war ein Mensch von außerordentlichen Fähigkeiten. Diese Feststellung brachte Schüler und Lehrer dazu, mich Der Fabelhafte zu nennen, wie eine Fabrikmarke, eine unbedingte Erfolgsgarantie. Meine bescheidene Berühmtheit sprach sich schon bald im ganzen Viertel in Montclair herum und erfüllte meine Eltern mit gewaltigem Stolz.
Meine erschlichene Reputation veranlasste mich, die edle Kunst des Boxens auszuüben. Ich hatte schon immer ein Faible für den Boxsport gehabt und war auch immer ein passabler Kämpfer gewesen, doch mich trieb etwas anderes dazu, heimlich in einem eine Bahnstunde von zu Hause entfernten Club in Brooklyn zu trainieren, wo mich niemand kannte, wo Der Fabelhafte nicht existierte, und das war die Sehnsucht, fehlbar sein zu dürfen. Ich wollte das Recht haben, von jemandem geschlagen zu werden, der stärker als ich war, das Recht, das Gesicht zu verlieren. Es war der einzige Weg, dem Monstrum der Perfektion zu entfliehen, das ich erschaffen hatte. In dieser Boxschule durfte Der Fabelhafte verlieren, durfte er schlecht sein, und Marcus konnte existieren. Denn mit der Zeit hatte meine Obsession, die unbestrittene Nummer eins zu sein, die Grenzen aller Vernunft gesprengt, und je öfter ich siegte, desto größer wurde meine Angst zu verlieren.
In meinem dritten Schuljahr sah sich der Schulleiter aufgrund von Budgetkürzungen gezwungen, die Hockeymannschaft aufzulösen, weil sie die Highschool im Verhältnis zu dem, was sie ihr einbrachte, zu viel kostete. Zu meinem großen Leidwesen musste ich mir eine neue Sportart aussuchen. Zwar wurde ich sowohl von der Fußball- als auch von der Basketballmannschaft umworben, aber mir war klar, dass ich, träte ich in eine der beiden ein, es mit Spielern würde aufnehmen müssen, die weitaus begabter und entschlossener als meine Hockeykumpane waren. Ich würde Gefahr laufen, in den Schatten gestellt zu werden, wieder in der Anonymität zu versinken oder, schlimmer noch, deklassiert zu werden. Was würden die anderen sagen, wenn Marcus Goldman alias Der Fabelhafte , der ehemalige Kapitän der Hockeymannschaft und erfolgreichste Torschütze der letzten zwanzig Jahre, plötzlich zum Wasserträger der Fußballmannschaft wurde? Ich durchlebte zwei bange Wochen, bis ich vom vollkommen unbekannten Laufteam der Highschool hörte, das aus zwei kurzbeinigen Dickwänsten und einem kraftlosen Hänfling bestand. Zudem stellte sich heraus, dass Laufen die einzige Sportart war, bei der Felton an keinem schulübergreifenden Wettkampf teilnahm: Das war für mich die Garantie, dass ich mich nie mit jemandem würde messen müssen, der mir gefährlich werden konnte. Erleichtert und ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, trat ich dem Laufteam von Felton bei und stellte schon beim ersten Trainingslauf unter den entzückten Blicken einiger Groupies sowie des Schulleiters mühelos den Geschwindigkeitsrekord meiner gutmütigen Teamkollegen ein.
Alles wäre wunderbar gewesen, wäre der Schulleiter, von meinen Leistungen angespornt, nicht auf die Schnapsidee gekommen, unter den umliegenden Schulen einen großen Wettlauf zu veranstalten, um das Image seiner Highschool aufzupolieren, denn er war sich sicher, dass Der Fabelhafte haushoch gewinnen würde. Als ich davon erfuhr, bekam ich Panik und trainierte einen Monat lang pausenlos. Trotzdem wusste ich, dass ich gegen die wettkampferprobten Läufer der anderen Schulen keine Chance hatte. Bei mir war alles nur Fassade, ein einziger Bluff: Ich würde mich der Lächerlichkeit preisgeben, noch dazu auf heimischem Boden.
Am Wettkampftag fanden sich ganz Felton sowie mein halbes Viertel ein, um mir zuzujubeln. Der Startschuss knallte, und wie befürchtet, hängten mich die anderen Läufer sofort ab. Das war der alles entscheidende Moment: Mein Ruf stand auf dem Spiel. Der Lauf ging über sechs Meilen, also über fünfundzwanzig Stadionrunden.
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