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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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schweigend ihr Frühstück hinunterschlangen. Im Hintergrund lief ein Radio, das immer auf einen Nachrichtensender eingestellt war, allerdings so leise, dass man nicht jedes Wort verstand. An sehr heißen Tagen wälzte der Deckenventilator die Luft mit metallischem Quietschen um und ließ den Staub um die Lampen tanzen. Wir setzten uns an Tisch 17, und sogleich erschien Jenny, um uns Kaffee einzuschenken. Mich bedachte sie jedes Mal mit einem milden, fast mütterlichen Lächeln. Sie sagte: »Armer Marcus, er zwingt dich im Morgengrauen aufzustehen, was? Das macht er, seit ich ihn kenne.« Und dann lachten wir.
    Aber an diesem 17. Juni 2008 herrschte im Clark’s trotz der morgendlichen Stunde bereits große Aufregung. Alles redete nur über den Fall, und als ich eintrat, hängten sich die mir bekannten Stammgäste wie Kletten an mich und wollten wissen, ob es wahr sei, dass Harry ein Verhältnis mit Nola gehabt und Deborah Cooper getötet habe. Ich wich den Fragen aus und setzte mich an Tisch 17, der unbesetzt war. Da stellte ich fest, dass die Plakette verschwunden war: An ihrer Stelle fanden sich lediglich zwei Schraublöcher im Holz sowie ein heller Abdruck im Lack des Tisches.
    Jenny brachte mir Kaffee und begrüßte mich freundlich. Sie wirkte bekümmert. »Du willst bei Harry wohnen?«, fragte sie.
    »Ich denke, ja. Und du hast die Plakette abgemacht?«
    »Ja.«
    »Warum?«
    »Er hat das Buch für dieses Mädchen geschrieben, Marcus. Für eine Fünfzehnjährige! Ich kann die Plakette nicht dranlassen. Diese Liebesgeschichte ist einfach widerlich.«
    »Ich denke, die Sache ist ein bisschen komplizierter«, hielt ich dagegen.
    »Und ich finde, du solltest dich da nicht einmischen, Marcus. Du solltest nach New York zurückfahren und dich aus allem raushalten.«
    Ich bestellte Pancakes und Würstchen bei ihr. Auf dem Tisch lag eine fettfleckige Ausgabe des Aurora Star . Von der Titelseite starrte mir ein riesiges Foto von Harry aus seiner Glanzzeit entgegen: Achtung gebietendes Äußeres, durchdringender, selbstsicherer Blick. Direkt darunter befand sich ein Foto von ihm beim Betreten des Gerichtsgebäudes von Concord: in Handschellen, mit zerzaustem Haar, verwahrlost, mitgenommen, niedergeschlagen. In Medaillonform je ein Porträt von Nola und von Deborah Cooper. Und obendrüber die Schlagzeile: WAS HAT HARRY QUEBERT GETAN ?
    Erne Pinkas traf kurz nach mir ein und setzte sich mit seiner Kaffeetasse zu mir. »Ich habe dich gestern Abend im Fernsehen gesehen«, sagte er. »Bleibst du jetzt hier?«
    »Schon möglich.«
    »Und weshalb?«
    »Keine Ahnung. Wegen Harry.«
    »Er ist unschuldig, nicht wahr? Ich glaube einfach nicht, dass er so etwas getan hat … Das glaube ich einfach nicht.«
    »Was weiß ich, Ernie.«
    Auf meine Bitte hin erzählte mir Pinkas, wie die Polizei Nolas Überreste einige Tage zuvor in Goose Cove in einem Meter Tiefe freigelegt hatte. An jenem Donnerstag war ganz Aurora von den Sirenen der aus dem gesamten Bezirk anrückenden Polizeifahrzeuge aufgeschreckt worden: Einsatzwagen der Autobahnstreife, Zivilfahrzeuge der Kriminalpolizei und sogar ein Kastenwagen der Spurensicherung.
    »Als wir hörten, dass es sich vermutlich um die Überreste von Nola Kellergan handelt«, erklärte Pinkas, »waren wir alle geschockt! Keiner konnte es fassen: Die ganze Zeit über hat die Kleine dort gelegen, direkt vor unseren Augen. Wie oft bin ich zu Harry gegangen, habe auf seiner Terrasse gesessen und Scotch getrunken! Quasi neben ihr … Sag mal, Marcus, hat er dieses Buch wirklich für sie geschrieben? Ich kann nicht glauben, dass die beiden was miteinander hatten. Wusstest du davon?«
    Um nicht antworten zu müssen, rührte ich den Kaffee in meiner Tasse um, bis ein Strudel entstand. Dann sagte ich einfach nur: »Das ist alles ein Riesenschlamassel, Erne.«
    Wenig später setzte sich Travis Dawn, der Polizeichef von Aurora und Jennys Ehemann, zu uns an den Tisch. Er gehörte zu denen, die ich von früher aus Aurora kannte: ein sanftmütiger Kerl, angegraut und um die sechzig, Typ gutherziger Provinzbulle, der schon lange keinem mehr Angst machte. »Tut mir leid, mein Junge«, sagte er zur Begrüßung.
    »Was?«
    »Na, diese Geschichte. Sie hat dich kalt erwischt. Ich weiß, dass du Harry sehr nahestehst. Das ist bestimmt nicht einfach für dich.«
    Travis war der Erste, der sich um meine Gefühle sorgte. Ich nickte, dann fragte ich: »Warum habe ich in all der Zeit, die ich hier verbracht habe, nie etwas

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