Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
wenigstens eine Idee hast. Sag mir, dass du einen Plan hast und es einen guten Grund für deine Fahrt nach New Hampshire gibt.«
»Einen guten Grund? Aus Freundschaft. Reicht das nicht?«
»Was bist du Harry verdammt noch mal schuldig?«
»Alles, absolut alles.«
»Was soll das heißen: alles ?«
»Das ist kompliziert, Douglas.«
»Was willst du damit sagen, verdammt?«
»Doug, in meinem Leben gab es eine Phase, von der ich dir nie erzählt habe. Als ich von der Highschool kam, hätte es böse mit mir enden können. Aber dann habe ich Harry kennengelernt … Er hat mir gewissermaßen das Leben gerettet. Das war 1998 in Burrows. Ich stehe in seiner Schuld. Ohne ihn wäre ich nie der Schriftsteller geworden, der ich jetzt bin. Ich verdanke ihm alles.«
29.
Kann man sich in ein fünfzehnjähriges Mädchen verlieben?
»Ich würde Ihnen gerne das Schreiben beibringen, Marcus, aber nicht, damit Sie wissen, wie man schreibt, sondern damit Sie Schriftsteller werden. Bücher zu schreiben ist nämlich kein Kinderspiel: Schreiben kann jeder, aber nicht jeder ist ein Schriftsteller.«
»Und woher weiß man, dass man einer ist, Harry?«
»Das weiß man nicht. Die anderen sagen es einem.«
Alle, die sich an Nola erinnern, werden sagen, dass sie ein tolles Mädchen war. Eine von denen, die einen bleibenden Eindruck hinterlassen: sanft und aufmerksam, vielseitig und strahlend. Anscheinend besaß sie diese einzigartige Lebensfreude, die Licht in den düstersten Regentag bringen kann. Samstags kellnerte sie im Clark’s. Leichtfüßig wirbelte sie zwischen den Tischen umher, dass ihre blonden Locken tanzten. Sie hatte immer für jeden Gast ein freundliches Wort. Und alle hatten nur Augen für sie. Nola – sie war eine Welt für sich.
Sie war die einzige Tochter von David und Louisa Kellergan, Evangelisten aus dem Süden, genauer gesagt, aus Jackson in Alabama, wo Nola am 12. April 1960 zur Welt gekommen war. Im Herbst 1969 waren die Kellergans nach Aurora gezogen, weil der Vater eine Stelle als Pastor in der Pfarrgemeinde von St. James angetreten hatte, der größten Glaubensgemeinschaft von Aurora, die damals einen bemerkenswerten Zustrom erlebte. Die am südlichen Stadtrand gelegene St.-James-Kirche war ein stattlicher Holzbau, von dem heute nichts mehr übrig ist, da die Gemeinden von Aurora und Montburry wegen Sparmaßnahmen und schrumpfender Gläubigenzahlen zusammengelegt werden mussten. Heute steht an derselben Stelle ein McDonald’s. Die Kellergans hatten bei ihrer Ankunft ein hübsches, eingeschossiges Haus in der Terrace Avenue 245 bezogen, das der Gemeinde gehörte. Allem Anschein nach war Nola sechs Jahre später, am Samstag, den 30. August 1975, durch das Fenster ihres Zimmers entfleucht.
Dies waren so ziemlich die ersten Beschreibungen, die mir die Stammgäste des Clark’s lieferten, als ich das Lokal am Morgen nach meiner Ankunft in Aurora besuchte. Ich war unverhofft bei Tagesanbruch aufgewacht, weil mich das unangenehme Gefühl plagte, nicht wirklich zu wissen, was ich hier eigentlich sollte. Nachdem ich am Strand joggen gegangen war, hatte ich die Möwen gefüttert und mich anschließend gefragt, ob ich wirklich bis nach New Hampshire gefahren war, nur um Meeresvögeln Brotkrumen auszustreuen. Ich war erst um elf Uhr mit Benjamin Roth in Concord verabredet, um Harry zu besuchen, und da ich in der Zwischenzeit nicht allein sein wollte, war ich ins Clark’s gegangen, um Pancakes zu essen. Als ich noch Student gewesen war und bei Harry gewohnt hatte, hatte er die Angewohnheit besessen, mich schon frühmorgens dorthin zu schleppen: Er weckte mich noch vor Tagesanbruch mit einem unsanften Schütteln und erklärte, es sei Zeit, die Sportklamotten anzuziehen. Dann gingen wir zum Joggen und Boxen hinunter ans Meer. Sobald er schwächelte, markierte er den Trainer: Er blieb stehen, angeblich um meine Bewegungen und meine Haltung zu korrigieren, aber mir war klar, dass er vor allem wieder zu Atem kommen wollte. Laufend und schattenboxend legten wir am Strand die paar Meilen von Goose Cove nach Aurora zurück. Am Grand Beach kletterten wir über die Felsen nach oben und durchquerten die noch schlafende Stadt. In der im Dunkeln liegenden Hauptstraße war schon von Weitem das grelle Licht zu sehen, das durch das große Glasfenster des Diners fiel. Es war das einzige Lokal, das zu dieser frühen Stunde geöffnet hatte. Im Innern herrschte tiefer Friede. Die wenigen Gäste waren Fernfahrer oder Vertreter, die
Weitere Kostenlose Bücher