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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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sie bei einer Freundin wäre, sondern war einfach abgehauen. Sie war weggelaufen, ohne irgendwem Bescheid zu sagen. Als ich sie am Tag nach unserer Rückkehr wiedergesehen habe, wirkte sie furchtbar traurig. Sie hat mir gesagt, dass ihre Mutter sie geschlagen habe. Ihr Körper war mit Striemen übersät, und sie weinte. An jenem Tag hat sie mir erzählt, dass ihre Mutter sie auch wegen Nichtigkeiten bestrafte, sie mit einem Eisenlineal schlug und mit ihr auch diese scheußliche Sache machte wie heutzutage in Guantánamo, dieses simulierte Ertränken. Sie füllte ein Waschbecken mit Wasser, packte ihre Tochter an den Haaren und tauchte ihren Kopf unter – angeblich, um sie zu erlösen.«
    »Zu erlösen?«
    »Ja, vom Bösen. Eine Art Taufe, schätze ich. Wie Jesus im Jordan oder so etwas. Zunächst konnte ich es gar nicht glauben, aber die Beweise waren nicht zu übersehen. Ich habe sie gefragt: ›Wer hat dir das angetan?‹ – ›Mutter.‹ – ›Und warum unternimmt dein Vater nichts dagegen?‹ – ›Der verkriecht sich in der Garage und hört laute Musik. Das macht er immer, wenn Mutter mich bestraft. Er will es nicht mitkriegen.‹ Nola konnte nicht mehr, Marcus, sie konnte einfach nicht mehr. Ich wollte zu den Kellergans gehen und die Sache klären. Das musste ein Ende haben. Aber Nola hat mich angefleht, nichts zu unternehmen. Sie hat gesagt, sie würde schrecklichen Ärger bekommen, ihre Eltern würden sie bestimmt aus der Stadt schaffen, und dann würden wir uns nie wiedersehen. Trotzdem konnte es nicht so weitergehen. Deshalb haben wir Ende August, um den 20. herum, beschlossen, dass wir fortgehen mussten. Und zwar bald. Und natürlich heimlich. Als Datum haben wir den 30. August festgelegt. Wir wollten in Vermont über die Grenze nach Kanada, vielleicht nach British Columbia, um dort in einer Holzhütte an einem Seeufer zu wohnen, und dort einfach glücklich zu sein. Niemand hätte je etwas erfahren.«
    »Das war der Grund, weshalb Sie zusammen durchbrennen wollten?«
    »Ja.«
    »Und warum soll ich nicht darüber reden?«
    »Weil das erst der Anfang ist, Marcus. Kurz darauf habe ich nämlich etwas Schreckliches über Nolas Mutter herausgefunden …«
    Ein Klingeln ist zu hören. Die Stimme eines Wärters kündigt das Ende der Besuchszeit an.
    »Wir setzen das Gespräch nächstes Mal fort, Marcus. Bis dahin behalten Sie das unbedingt für sich.«
    »Und was hatte er über Nolas Mutter herausgefunden?«, fragte Gahalowood ungeduldig.
    »An die Fortsetzung erinnere ich mich nicht«, erwiderte ich verwirrt und wühlte in den anderen Minidiscs.
    Plötzlich hielt ich inne, wurde bleich und schrie auf: »Das darf nicht wahr sein!«
    »Was, Schriftsteller?«
    »Das war Harrys letzte Aufnahme! Deshalb steht kein Datum auf der Minidisc! Das hatte ich völlig vergessen. Wir haben das Gespräch nie zu Ende geführt! Danach kam die Sache mit Pratt ans Licht, und Harry wollte nicht mehr aufgenommen werden, also habe ich bei meinen Interviews nur noch Notizen in ein Heft gemacht. Und dann gelangte das unfertige Manuskript an die Öffentlichkeit, und Harry war wütend auf mich. Wie konnte ich nur so dämlich sein?«
    »Wir müssen uns unbedingt mit Harry unterhalten«, verkündete Gahalowood und schnappte sich seinen Mantel. »Wir müssen wissen, was er über Louisa Kellergan herausgefunden hatte.«
    Und schon machten wir uns auf den Weg zum Sea Side Motel.
    Zu unserer großen Überraschung öffnete uns nicht etwa Harry, sondern eine hochgewachsene Blondine die Tür zu Zimmer 8. Wir begaben uns zum Rezeptionisten, und der erklärte uns nüchtern: »Wir hatten hier in letzter Zeit keinen Harry Quebert.«
    »Das kann nicht sein«, sagte ich. »Er hat wochenlang hier gewohnt.«
    Auf Gahalowoods Bitte hin sah der Rezeptionist das Anmelderegister der letzten sechs Monate durch. Aber er blieb bei seiner Aussage und wiederholte: »Kein Harry Quebert.«
    »Das ist ausgeschlossen«, entgegnete ich genervt. »Ich habe ihn doch hier gesehen! Ein großer Kerl mit wirrer weißer Mähne.«
    »Ach, der! Ja, dieser Mann hat sich oft auf dem Parkplatz herumgetrieben. Aber er hat hier kein Zimmer gemietet.«
    »Er hat in Zimmer 8 gewohnt!«, rief ich aufbrausend. »Ich weiß es, ich habe ihn oft vor der Tür sitzen sehen.«
    »Ja, er hat davorgesessen. Ich habe ihn mehrmals zum Gehen aufgefordert, aber er hat mir jedes Mal einen Hundertdollarschein zugesteckt! Für das Geld konnte er von mir aus so lange sitzen bleiben, wie er wollte.

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