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Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert

Titel: Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joël Dicker
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entrissen hatte, wirbelten durch die Luft, und die Passanten kämpften sich durch das Unwetter, indem sie von Unterstand zu Unterstand hasteten.
    Der Pfarrer stieß die Tür zum Gotteshaus auf, die der Wind sofort krachend hinter ihm zuwarf. Im Innern war es düster und eiskalt. Langsam schritt er die Bankreihen ab. Durch das undichte Dach tropfte der Regen und bildete vereinzelte Pfützen auf dem Boden. Die Kirche war wie ausgestorben, nicht ein Gläubiger war zu sehen, und auch sonst gab es nur wenige Anzeichen dafür, dass sie noch genutzt wurde. Anstelle der Kerzen fanden sich nur ein paar kümmerliche Wachsrückstände. Er ging auf den Altar zu, und als er die Kanzel erblickte, setzte er den Fuß auf die unterste Holzstufe, um hinaufzusteigen.
    »Tun Sie das nicht!«
    Die Stimme, die aus dem Nichts erklang, ließ ihn zusammenfahren. Er drehte sich um und sah einen kleinen rundlichen Mann aus dem Dunkel auftauchen.
    »Tun Sie das nicht«, wiederholte er. »Die Treppe ist wurmzerfressen, Sie könnten sich den Hals brechen. Sie sind Reverend Kellergan, nicht wahr?«
    »Ja«, antwortete David beklommen.
    »Willkommen in Ihrer neuen Kirche, Reverend. Ich bin Pastor Jeremy Lewis und leite die Gemeinde der Neuen Erlöserkirche. Als Ihr Vorgänger uns verlassen hat, hat man mich gebeten, mich einstweilen um Mt Pleasant zu kümmern. Jetzt gehört sie Ihnen.«
    Die beiden Männer schüttelten sich herzlich die Hände. David Kellergan schlotterte vor Kälte.
    »Sie zittern ja!«, stellte Lewis fest. »Sie sind sicher halb erfroren! Kommen Sie, an der Straßenecke gibt es ein Café. Dort trinken wir einen heißen Grog und plaudern ein bisschen.«
    So lernten sich Jeremy Lewis und David Kellergan kennen. Sie setzten sich in das Café und warteten, bis das Unwetter vorbei war.
    »Man hatte mir zwar gesagt, dass es nicht gut um Mt Pleasant steht«, meinte David Kellergan mit einem leicht fassungslosen Lächeln, »aber ich muss gestehen, das hatte ich nicht erwartet.«
    »Ja. Ich kann Ihnen nicht verhehlen, dass sich die Gemeinde, die Sie übernehmen, in einem beklagenswerten Zustand befindet. Die Leute kommen nicht mehr in die Kirche, und sie spenden auch nichts mehr. Das Gebäude selbst ist eine Ruine. Es gibt jede Menge zu tun. Ich hoffe, das schreckt Sie nicht ab.«
    »Mich erschreckt so schnell nichts, Reverend Lewis.«
    Lewis lächelte. Die Persönlichkeit und Ausstrahlung seines Gegenübers hatte es ihm angetan. »Sind Sie verheiratet?«, fragte er.
    »Nein, Reverend Lewis. Ich bin noch Junggeselle.«
    Der neue Pfarrer von Mt Pleasant zog sechs Monate lang in seiner Gemeinde von Tür zu Tür, um sich den Gläubigen vorzustellen und sie zu überreden, sonntags wieder den Gottesdienst zu besuchen. Anschließend trieb er die erforderlichen Mittel für die Reparatur des Kirchendachs auf, und da er nicht im Koreakrieg gedient hatte, leistete er seinen Beitrag zu den Kriegsanstrengungen, indem er ein Programm zur Wiedereingliederung von Veteranen auf die Beine stellte. Manche von ihnen melden sich daraufhin freiwillig zur Instandsetzung des angrenzenden Gemeindesaals. Nach und nach kam wieder Leben in die Pfarrei, die Mt-Pleasant-Kirche erstrahlte in neuem Glanz, und schon bald galt David Kellergan als aufsteigender Stern von Jackson. Einige Honoratioren und Gemeindemitglieder sahen ihn bereits in der Politik. Sie glaubten, er könne es in den Magistrat schaffen. Und später vielleicht ein Bundesmandat anvisieren. Als Senator, wer weiß. Das Potenzial hatte er.
    Eines Abends zu Beginn des Jahres 1953 ging David Kellergan in einem kleinen Restaurant unweit der Kirche essen. Er setzte sich an den Tresen, wie er es häufig tat. Plötzlich drehte sich neben ihm eine junge Frau um, die er nicht bemerkt hatte, und als sie ihn erkannte, sagte sie lächelnd: »Guten Abend, Reverend.«
    Leicht verlegen erwiderte er das Lächeln. »Entschuldigen Sie, Miss, aber kennen wir uns?«
    Sie lachte, und ihre blonden Locken hüpften. »Ich bin ein Mitglied Ihrer Gemeinde. Ich heiße Louisa. Louisa Bonneville.«
    Er errötete vor Peinlichkeit darüber, dass er sie nicht erkannt hatte, und da musste sie erst recht lachen. Um die Fassung zu bewahren, zündete er sich eine Zigarette an.
    »Bekomme ich auch eine?«, fragte sie.
    Er reichte ihr sein Päckchen.
    »Sie werden doch niemandem erzählen, dass ich rauche, oder, Reverend?«, fragte Louisa.
    Er grinste. »Versprochen.«
    Louisa war die Tochter eines hoch angesehenen Gemeindemitglieds. David

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