Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
von Nola Kellergan gehört?«
»Weil das, bis man ihre Leiche in Goose Cove gefunden hat, eine alte Geschichte war. Und zwar die Art von Geschichte, an die man sich lieber nicht erinnern möchte.«
»Travis, was ist am 30. August 1975 passiert? Und was ist dieser Deborah Cooper zugestoßen?«
»Das ist eine schlimme Sache, Marcus, eine ganz schlimme. Ich habe sie an vorderster Front miterlebt, weil ich an jenem Tag Dienst hatte. Damals war ich nur ein einfacher Polizist. Ich habe den Anruf aus der Zentrale entgegengenommen … Deborah Cooper war ein nettes altes Mütterchen und bewohnte seit dem Tod ihres Mannes ihr abgelegenes Haus am Waldrand bei Side Creek allein. Weißt du, wo Side Creek ist? Dort, wo dieser endlose Wald anfängt, zwei Meilen hinter Goose Cove. Ich erinnere mich gut an die alte Cooper. Ich war damals noch nicht lange bei der Polizei, aber sie rief regelmäßig an. Vor allem nachts, um irgendwelche verdächtigen Geräusche zu melden, die sie bei sich gehört hatte. Sie hatte eine Heidenangst in ihrem Häuschen dort am Waldrand und brauchte jemanden, der sie ab und zu beruhigen kam. Sie entschuldigte sich jedes Mal für die Störung und bot den Polizeibeamten, die angerückt waren, immer Kaffee und Kuchen an. Und am nächsten Tag kam sie aufs Revier und brachte uns eine Kleinigkeit vorbei. Ein nettes altes Mütterchen eben. Leuten wie ihr tut man gern einen Gefallen. Kurzum, am 30. August 1975 hat die alte Cooper die Nummer des Polizeinotrufs gewählt und gemeldet, dass sie ein Mädchen gesehen habe, dem ein Mann in den Wald hinterhergerannt sei. Ich war der einzige Streifenpolizist in Aurora und fuhr sofort zu ihr. Zum ersten Mal hatte sie am helllichten Tag angerufen. Als ich eintraf, wartete sie vor ihrem Haus. Sie hat gesagt: ›Sie halten mich bestimmt für verrückt, Travis, aber diesmal habe ich wirklich etwas Merkwürdiges gesehen.‹ Ich habe den Waldrand abgesucht, wo sie das junge Mädchen gesehen hatte, und ein Stück roten Stoff gefunden. Ich habe sofort begriffen, dass die Sache ernst ist, und Chief Pratt, den damaligen Polizeichef von Aurora, benachrichtigt. Er hatte zwar seinen freien Tag, kam aber sofort. Der Wald ist riesig, und zu zweit waren wir nicht gerade der ideale Suchtrupp. Trotzdem haben wir uns ins Unterholz geschlagen und nach gut einer Meile Blutspuren, blonde Haare und noch mehr rote Stofffetzen entdeckt. Allerdings blieb uns keine Zeit, uns näher damit zu beschäftigen, weil in diesem Augenblick aus der Richtung von Deborah Coopers Haus ein Schuss knallte … Also rannten wir zurück. Die alte Cooper lag in einer Blutlache in ihrer Küche. Später erfuhren wir, dass sie kurz vorher noch mal in der Zentrale angerufen hatte, um zu melden, dass sich das Mädchen, das sie zuvor gesehen hatte, zu ihr geflüchtet hatte.«
»Das Mädchen war zu ihrem Haus zurückgekommen?«
»Ja. Während wir im Wald waren, war die Kleine blutüberströmt und Hilfe suchend wiederaufgetaucht. Aber als wir eintrafen, befand sich außer der Leiche der alten Cooper niemand mehr im Haus. Es war total verrückt.«
»Und dieses Mädchen war Nola?«, fragte ich.
»Ja. Das wurde uns bald klar, weil ihr Vater wenig später anrief, um sie als vermisst zu melden. Außerdem hatte Deborah Cooper sie identifiziert, als sie die Zentrale anrief.«
»Was ist danach passiert?«
»Nach dem zweiten Anruf der alten Cooper hatten sich bereits mehrere Einheiten aus der Gegend in Bewegung gesetzt. Am Waldrand bei Side Creek fiel einem Hilfssheriff ein schwarzer Chevrolet Monte Carlo auf, der in nördlicher Richtung flüchtete. Es kam zu einer Verfolgungsjagd, aber das Fahrzeug ist uns trotz Straßensperren entwischt. Anschließend haben wir wochenlang nach Nola gesucht: Wir haben in der ganzen Gegend jeden Stein umgedreht. Wer wäre schon auf die Idee gekommen, dass sie bei Harry Quebert in Goose Cove war? Alle Anzeichen sprachen dafür, dass sie sich irgendwo in diesem Wald befand. Wir haben ihn unermüdlich durchkämmt. Das Auto und das Mädchen wurden nie gefunden. Wenn man uns gelassen hätte, wir hätten das ganze Land umgegraben, aber nach drei Wochen mussten wir die Suche schweren Herzens einstellen, weil bei der State Police ein paar hohe Tiere beschlossen hatten, dass die Suche zu kostspielig und der Ausgang zu ungewiss sei.«
»Gab es damals einen Verdächtigen?«
Er zögerte kurz, dann sagte er: »Es war zwar nie offiziell, aber …. wir hatten Harry in Verdacht. Dafür hatten wir unsere
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