Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
und Nacht gesucht. Und auf einmal war sie wieder da.«
»Was ist am 30. August passiert?«
»Sie hatte eine sehr heftige Krise. In so einem Zustand hatte ich sie noch nie erlebt. Ich habe versucht, sie zu beruhigen, aber es war nichts zu machen. Also habe ich mich in der Garage verkrochen, um dieses verfluchte Motorrad zu reparieren. Ich habe die Musik voll aufgedreht und mich den Großteil des Nachmittags versteckt. Den Rest kennen Sie. Als ich zu ihr gegangen bin, war sie nicht mehr da … Dann bin ich losgegangen, um im Viertel nach ihr zu suchen, aber dann habe ich gehört, dass in der Nähe von Side Creek ein blutendes Mädchen gesehen worden war, und begriffen, dass die Lage ernst war.«
»Was haben Sie gedacht?«
»Ehrlich gesagt, dachte ich zuerst, Nola wäre von zu Hause weggelaufen und das Blut käme von ihren Selbstzüchtigungen. Ich dachte, Deborah Cooper hätte Nola vielleicht mitten in einem ihrer Anfälle erlebt. Schließlich war es der 30. August, also der Tag, an dem unser Haus in Jackson abgebrannt ist.«
»Hatte Nola an diesem Datum bereits früher mal eine so schlimme Krise?«
»Nein.«
»Was hätte eine derartige Krise auslösen können?«
David Kellergan zögerte mit der Antwort. Travis Dawn begriff, dass man ihn zum Reden ermuntern musste. »Wenn du etwas weißt, David, musst du es uns sagen. Das ist sehr wichtig. Tu es für Nola.«
»Als ich an jenem Tag in ihr Zimmer gegangen bin und sie nicht da war, habe ich auf ihrem Bett einen aufgerissenen Umschlag liegen sehen, einen an sie adressierten Umschlag mit einem Brief darin. Ich glaube, dieser Brief hat die Krise ausgelöst. Es war ein Abschiedsbrief.«
»Von diesem Brief hast du uns nie etwas erzählt!«, rief Travis.
»Weil er von einem Mann stammte, der der Schrift nach nicht im passenden Alter für eine Liebesgeschichte mit meiner Tochter war. Was willst du? Hätte die ganze Stadt Nola für ein Flittchen halten sollen? Damals war ich mir sicher, dass die Polizei sie finden und nach Hause bringen würde. Danach wollte ich sie gründlich behandeln lassen! Jawohl, gründlich!«
»Wer war der Verfasser dieses Abschiedsbriefs?«, fragte Gahalowood.
»Harry Quebert.«
Wir waren sprachlos. Der alte Kellergan stand auf und verschwand. Kurz darauf kehrte er mit einer Pappschachtel voller Briefe zurück.
»Die habe ich, nachdem Nola verschwunden ist, in ihrem Zimmer hinter einem losen Brett gefunden. Nola hat sich mit Harry Quebert Briefe geschrieben.«
Gahalowood fischte aufs Geratewohl einen heraus und überflog ihn. »Woher wissen Sie, dass es Harry Quebert war?«, forschte er. »Die Briefe sind nicht unterschrieben …«
»Weil … Weil diese Briefe in seinem Buch vorkommen.«
Ich kramte in der Schachtel: Tatsächlich enthielt sie die Korrespondenz aus Der Ursprung des Übels , zumindest die Briefe, die Nola erhalten hatte. Sie waren alle da: die Briefe, die von den beiden handelten, und auch die Briefe, die Nola in der Klinik von Charlotte’s Hill erhalten hatte. Ich erkannte die klare, perfekte Handschrift des Manuskripts wieder, und das jagte mir einen Schauer über den Rücken: All das hatte wirklich stattgefunden.
»Und das hier ist der berühmte letzte Brief«, verkündete der alte Kellergan und gab Gahalowood ein Kuvert.
Gahalowood las ihn und reichte ihn an mich weiter.
Meine Allerliebste,
das ist mein letzter Brief. Das sind meine letzten Worte. Ich schreibe Ihnen, um Adieu zu sagen.
Von heute an wird es kein »wir« mehr geben. Die Liebenden trennen sich und finden nicht mehr zusammen, so enden Liebesgeschichten.
Meine Allerliebste, Sie werden mir fehlen. Sie werden mir so fehlen.
Meine Augen weinen. Alles in mir brennt.
Wir werden uns nie wiedersehen. Sie werden mir so fehlen.
Ich hoffe, dass Sie glücklich werden.
Ich sage mir, dass das zwischen Ihnen und mir ein Traum war und es jetzt Zeit ist, aufzuwachen.
Sie werden mir mein Leben lang fehlen.
Adieu. Ich liebe Sie, wie ich nie wieder lieben werde.
»Er entspricht der letzten Seite von Der Ursprung des Übels «, erklärte Kellergan.
Ich nickte wie vor den Kopf geschlagen, denn ich erkannte den Text wieder.
»Seit wann wissen Sie, dass Harry und Nola sich geschrieben haben?«, fragte Gahalowood.
»Erst seit ein paar Wochen. Im Supermarkt ist mir das Buch in die Hände gefallen. Es war gerade wieder ins Sortiment aufgenommen worden. Ich weiß auch nicht, warum, aber ich habe es gekauft. Ich musste es lesen, um alles besser zu verstehen. Der eine
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