Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
oder andere Satz darin kam mir bekannt vor. Schon verrückt, die Macht der Erinnerung! Ich habe nachgedacht, und plötzlich ist mir klar geworden: Die Sätze stammten aus den Briefen, die ich in Nolas Zimmer gefunden hatte. Ich hatte sie dreißig Jahre lang nicht angerührt, aber sie waren irgendwo in meinem Gedächtnis abgespeichert. Also habe ich sie noch einmal gelesen, und danach war mir alles klar: Dieser gottverdammte Brief, Sergeant, hat dazu geführt, dass meine Tochter verrückt vor Kummer wurde! Luther Caleb hat Nola vielleicht getötet, aber Quebert ist in meinen Augen mindestens so schuldig wie er. Hätte sie nämlich nicht diese Zustände bekommen, wäre sie vielleicht nicht von zu Hause ausgerissen und Caleb in die Arme gelaufen.«
»Deshalb haben Sie also Harry im Motel besucht«, folgerte Gahalowood.
»Ja! Dreiunddreißig Jahre lang habe ich mich gefragt, wer diese verfluchten Briefe geschrieben hat. Dabei stand die Antwort die ganze Zeit in sämtlichen Bibliotheken Amerikas! Ich bin zum Sea Side Motel gefahren, und es kam zum Streit. Ich war so aufgebracht, dass ich nach Hause gefahren bin, um mein Gewehr zu holen, aber als ich zum Motel zurückkam, war er verschwunden. Ich glaube, ich hätte ihn umgebracht. Er wusste, wie labil sie war, und trotzdem hat er die Sache auf die Spitze getrieben!«
Ich fiel aus allen Wolken. »Was sagen Sie da?«, stieß ich hervor.
»Er wusste alles über Nola! Alles!«, rief David Kellergan.
»Soll das heißen, Harry wusste über Nolas Psychosen Bescheid?«
»Ja! Mir war bekannt, dass Nola ab und zu mit der Schreibmaschine zu ihm ging. Vom Rest wusste ich natürlich nichts. Ich fand es sogar gut, dass sie einen Schriftsteller kannte. Schließlich waren Ferien, und so war sie beschäftigt. Bis dieser unselige Kerl dann hier aufkreuzte und Streit suchte, weil er glaubte, dass meine Frau Nola schlug.«
»Harry hat Sie in jenem Sommer aufgesucht?«
»Ja. Mitte August. Ein paar Tage bevor Nola verschwunden ist.«
15. August 1975
Mitten am Nachmittag. Vom Fenster seines Büros aus bemerkte Reverend Kellergan, wie ein schwarzer Chevrolet auf den Parkplatz der Gemeinde fuhr. Er sah Harry Quebert aussteigen und mit raschem Schritt auf den Eingang zugehen. Was mochte der Grund für seinen Besuch sein? Seit seiner Ankunft in Aurora hatte sich Harry nie in der Kirche blicken lassen. David Kellergan hörte die Eingangstür zuschlagen, dann Schritte auf dem Gang, und gleich darauf erschien Harry im Rahmen der offenen Bürotür.
»Guten Tag, Harry«, begrüßte er ihn. »Welch schöne Überraschung!«
»Guten Tag, Reverend. Störe ich Sie?«
»Nicht im Geringsten. Bitte kommen Sie herein.«
Harry trat ein und schloss hinter sich die Tür.
»Ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich der Reverend. »Sie schauen so merkwürdig.«
»Ich bin hier, um mit Ihnen über Nola zu reden …«
»Oh, das trifft sich gut. Ich wollte Ihnen nämlich danken. Ich weiß, dass sie manchmal zu Ihnen geht, und sie kommt immer sehr vergnügt nach Hause. Ich hoffe, sie stört Sie nicht … Dank Ihnen ist sie in den Ferien gut beschäftigt.«
Aber Harrys Gesicht blieb ernst. »Sie war heute Morgen bei mir«, sagte er. »Sie war in Tränen aufgelöst und hat mir alles über Ihre Frau erzählt.«
Der Reverend wurde kreidebleich. »Über … meine Frau? Was hat sie Ihnen gesagt?«
»Dass sie sie schlägt! Und dass sie ihren Kopf in einem Becken mit eiskaltem Wasser untertaucht!«
»Harry, ich …«
»Damit ist jetzt Schluss, Reverend! Ich weiß alles.«
»Harry, die Sache ist etwas komplizierter. Ich …«
»Komplizierter? Wollen Sie mir etwa einreden, dass es für diese Misshandlungen einen guten Grund gibt? Hä? Ich werde zur Polizei gehen und denen alles erzählen, Reverend.«
»Nein, Harry, bloß nicht …«
»Doch, das werde ich. Was glauben Sie? Dass ich nicht wage, Sie anzuzeigen, weil Sie ein Kirchenmann sind? Das beeindruckt mich gar nicht! Was für ein Mensch lässt zu, dass seine Frau seine Tochter verprügelt?«
»Harry … Hören Sie mir zu, ich bitte Sie. Hier liegt ein schreckliches Missverständnis vor, und wir sollten uns in Ruhe unterhalten.«
»Ich weiß nicht, was Nola Harry erzählt hatte«, erklärte uns der Reverend. »Er war nicht der Erste, der ahnte, dass etwas komisch war. Aber bis dahin hatte ich es nur mit Nolas Freunden zu tun gehabt, mit Teenagern, deren Fragen ich leicht ausweichen konnte. Harry war ein anderes Kaliber. Ich musste ihm gegenüber
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