Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Man überprüfte seine Kreditkartenabrechnungen und Telefonverbindungen. Aber seine Kreditkarte war nicht genutzt worden, und sein Handy sendete kein Signal mehr. Durch eine Anfrage bei der Datenbank der Grenzbehörden erfuhren wir, dass er am Posten von Derby Line in Vermont die Grenze nach Kanada überquert hatte.
»Also ist er jetzt in Kanada«, meinte Gahalowood. »Warum ausgerechnet Kanada?«
»Weil er glaubt, dass dort das Paradies der Schriftsteller ist«, erwiderte ich. »Im Manuskript Die Möwen von Aurora , das er mir hinterlassen hat, landet er mit Nola am Ende dort.«
»Mag ja sein, aber ich darf Sie daran erinnern, dass er in seinem Buch nicht die Wahrheit schreibt? Nicht nur, dass Nola tot ist, sondern er hatte offenbar auch nie vor, mit ihr durchzubrennen. Trotzdem hinterlässt er Ihnen dieses Manuskript, in dem er und Nola in Kanada wieder zusammenfinden. Was ist denn nun wahr?«
»Ich blicke nicht mehr durch!«, fluchte ich. »Warum zum Teufel hat er sich abgesetzt?«
»Weil er etwas zu verbergen hat. Nur wissen wir nicht genau, was.«
Zu diesem Zeitpunkt ahnten wir nicht, dass uns noch weitere Überraschungen ins Haus standen. Zwei größere Vorfälle sollten uns schon bald Antworten auf unsere Fragen liefern.
An diesem Abend teilte ich Gahalowood mit, dass ich für den nächsten Tag einen Flug nach New York gebucht hatte.
»Wie bitte? Sie fliegen zurück nach New York? Sind Sie jetzt vollkommen übergeschnappt, Schriftsteller? Wir stehen kurz vor der Auflösung! Geben Sie mir Ihren Ausweis, damit ich ihn beschlagnahmen kann.«
Ich grinste. »Ich verlasse Sie ja nicht, Sergeant, aber es ist höchste Zeit.«
»Zeit wofür?«
»Wählen zu gehen. Amerika hat ein Rendezvous mit der Geschichte.«
Am 5. November 2008, als New York noch immer Obamas Einzug ins Weiße Haus feierte, traf ich mich mit Barnaski zum Mittagessen im Pierre. Der Sieg der Demokraten hatte ihn in gute Laune versetzt. »Ich liebe die Schwarzen!«, sagte er. »Ich liebe schöne schwarze Menschen! Wenn Sie eine Einladung ins Weiße Haus kriegen, nehmen Sie mich mit! Also, was haben Sie mir so Wichtiges mitzuteilen?«
Ich erzählte ihm, was ich über Nola und ihre Kindheitspsychose in Erfahrung gebracht hatte.
Sein Gesicht hellte sich auf. »Die Szenen, in denen Sie die Misshandlungen durch die Mutter beschreiben – das war in Wirklichkeit Nola selbst?«
»Ja.«
»Fabelhaft!«, trompetete er durchs Restaurant. »Ihr Buch wird in seiner Art bahnbrechend sein! Der Leser hat das Gefühl, selbst nicht ganz bei Verstand zu sein, weil die Figur der Mutter existiert, ohne wirklich zu existieren! Sie sind ein Genie, Goldman! Ein Genie!«
»Nein, ich habe mich einfach nur geirrt. Ich habe mich von Harry an der Nase herumführen lassen.«
»Wusste Harry davon?«
»Ja. Er ist übrigens wie vom Erdboden verschluckt.«
»Was soll das heißen?«
»Er ist unauffindbar. Offenbar hat er die Grenze nach Kanada überquert. Als einzigen Hinweis hat er mir eine kryptische Nachricht und ein unveröffentlichtes Manuskript über Nola hinterlassen.«
»Gehören die Rechte Ihnen?«
»Wie bitte?«
»Die Rechte an dem unveröffentlichten Manuskript – gehören sie Ihnen? Ich kaufe sie Ihnen ab!«
»Verdammt noch mal, Roy! Darum geht es doch gar nicht!«
»Entschuldigung. War ja nur eine Frage.«
»Ein Detail fehlt noch. Irgendetwas habe ich noch nicht begriffen. Diese Geschichte mit der Kindheitspsychose, Harry, der abtaucht … Ein Puzzleteilchen fehlt noch, das weiß ich, aber ich komme nicht darauf.«
»Sie sind ein großer Zauderer, Marcus, aber glauben Sie mir, Angst bringt einen nicht weiter. Gehen Sie zu Doktor Freud, und lassen Sie sich ein paar Pillen zur Entspannung verschreiben. Ich jedenfalls werde Kontakt zur Presse aufnehmen. Wir werden eine Erklärung über die Krankheit der Kleinen verfassen, mit der wir alle glauben machen, dass wir von Anfang an Bescheid wussten, und die Sache als ›Überraschungsei‹ verkaufen, frei nach dem Motto, dass die Wahrheit manchmal ganz anders aussieht und man sich nicht auf den ersten Eindruck verlassen sollte. Die Leute, die Sie verrissen haben, werden als die Gelackmeierten dastehen, und Sie werden als großer Vorreiter gelten. Ihr Buch wird plötzlich wieder in aller Munde sein, und wir werden einen weiteren netten kleinen Packen davon verkaufen, denn durch diese Sache werden auch die, die gar nicht die Absicht hatten, es zu erwerben, ihre Neugier nicht bezähmen können und wissen
Weitere Kostenlose Bücher