Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
oben. Ich hastete ihm durch allerlei Gänge bis zum Zellentrakt hinterher. Dort verlangte er, sofort mit Robert Quinn zu sprechen.
»Wen decken Sie?«, schrie Gahalowood, kaum dass er ihn hinter den Gitterstäben seiner Zelle erblickte. »Im August 1975 haben Sie keinen schwarzen Monte Carlo Probe gefahren! Sie decken jemanden, und ich will wissen, wen! Ihre Frau? Oder Ihre Tochter?«
Robert wirkte verzweifelt. Er saß auf der schmalen gepolsterten Pritsche und sagte leise: »Jenny. Ich decke Jenny.«
»Jenny?«, wiederholte Gahalowood entgeistert. »Also hat Ihre Tochter …« Er zog sein Handy heraus und tippte eine Nummer.
»Wen rufen Sie an?«, fragte ich.
»Travis Dawn, damit er seiner Frau nichts sagt. Wenn sie erfährt, dass ihr Vater alles gestanden hat, bekommt sie die Panik und haut ab.«
Travis ging nicht an sein Handy. Also rief Gahalowood auf dem Revier in Aurora an, damit man ihn per Funk mit ihm verband. »Hier Sergeant Gahalowood, State Police, New Hampshire«, sagte er zum Officer, der Bereitschaft hatte. »Ich muss sofort mit Chief Dawn sprechen.«
»Mit Chief Dawn? Rufen Sie ihn auf dem Handy an. Er hat heute keinen Dienst.«
»Wie kann das sein? Ich habe ihn vorhin gesprochen, und da hat er gesagt, dass er mit einem Verkehrsunfall beschäftigt ist.«
»Ausgeschlossen, Sergeant. Ich sage Ihnen doch: Er hat heute keinen Dienst.«
Kreidebleich legte Gahalowood auf und löste unverzüglich eine Großfahndung aus.
Travis und Jenny Dawn wurden wenige Stunden später am Flughafen Boston-Logan verhaftet, wo sie gerade in ein Flugzeug nach Caracas steigen wollten.
Es war schon Nacht, als Gahalowood und ich das Polizeihauptquartier in Concord verließen. Am Ausgang wartete eine Journalistenmeute und stürzte sich auf uns. Wir bahnten uns kommentarlos einen Weg durch die Menge und verschwanden in Gahalowoods Wagen. Schweigend fuhr er los.
»Wohin fahren wir, Sergeant?«, fragte ich.
»Keine Ahnung.«
»Was machen Polizisten in solchen Momenten?«
»Sie gehen einen trinken. Und Schriftsteller?«
»Sie gehen einen trinken.«
Er fuhr uns zu seiner Bar am Stadtrand von Concord. Wir setzten uns an den Tresen und bestellten zwei doppelte Whiskys. Hinter uns verkündete der Liveticker auf einem Fernsehschirm die Neuigkeit:
POLIZEIBEAMTER AUS AURORA
GESTEHT MORD AN NOLA KELLERGAN
1.
Die Wahrheit über
den Fall Harry Quebert
»Das letzte Kapitel eines Buchs, Marcus, muss immer das schönste sein.«
New York, Donnerstag, der 18. Dezember 2008
Ein Monat nach Entdeckung der Wahrheit
Es war das letzte Mal, dass ich ihn sah.
Einundzwanzig Uhr. Ich war zu Hause und hörte mir gerade meine Minidiscs an, als er an der Tür klingelte. Ich öffnete, und wir musterten uns lange schweigend. Schließlich sagte er: »Guten Tag, Marcus.«
Nach kurzem Zögern antwortete ich: »Ich dachte, Sie wären tot.«
Er nickte. »Das ist nur mein Gespenst.«
»Möchten Sie einen Kaffee?«
»Gern. Sind Sie allein?«
»Ja.«
»Sie sollten nicht mehr allein sein.«
»Kommen Sie herein, Harry.« Ich ging in die Küche, um Kaffee aufzusetzen. Er wartete im Wohnzimmer und spielte aus Nervosität mit den gerahmten Bildern, die in meinem Bücherregal standen. Als ich mit der Kaffeekanne und zwei Tassen hereinkam, sah er sich gerade ein Foto von ihm und mir am Tag meiner Diplomverleihung in Burrows an.
»Das ist das erste Mal, dass ich zu Ihnen komme«, stellte er fest.
»Das Gästezimmer ist für Sie hergerichtet, schon seit Wochen.«
»Sie wussten, dass ich kommen würde, nicht wahr?«
»Ja.«
»Sie kennen mich gut, Marcus.«
»Freunde wissen so etwas.«
Er lächelte traurig. »Danke für Ihre Gastfreundschaft, Marcus, aber ich werde nicht bleiben.«
»Warum sind Sie dann gekommen?«
»Um mich von Ihnen zu verabschieden.«
Ich versuchte meine Enttäuschung zu überspielen und schenkte Kaffee ein. »Wenn Sie mich verlassen, habe ich keine Freunde mehr«, sagte ich.
»Sagen Sie so etwas nicht! Ich habe Sie nicht nur wie einen Freund geliebt, sondern wie einen Sohn, Marcus.«
»Und ich habe Sie wie einen Vater geliebt, Harry.«
»Trotz der Wahrheit?«
»Die Wahrheit ändert nichts an dem, was man für einen anderen Menschen empfindet. Das ist ja die Krux mit den Gefühlen.«
»Sie haben recht, Marcus. Jetzt wissen Sie alles, oder?«
»Ja.«
»Wie haben Sie es herausgefunden?«
»Irgendwann hat es klick gemacht.«
»Sie waren der Einzige, der mich entlarven konnte.«
»Das meinten Sie also auf dem
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