Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
zu sagen. Er hatte zu große Angst vor dem, was geschehen könnte, wenn er sie liebte.
»Ich kann dich nicht lieben«, sagte er mit gespielter Gleichgültigkeit.
Sie ließ ihren Tränen freien Lauf. »Sie lügen! Sie sind ein Mistkerl, und Sie lügen! Warum dann Rockland? Was sollte das alles?«
Er zwang sich, gemein zu sein. »Das war ein Fehler.«
»Nein! Nein! Und ich dachte, das zwischen Ihnen und mir wäre etwas Besonderes! Es ist wegen Jenny, stimmt’s? Sie lieben sie, oder? Was hat sie, was ich nicht habe?«
Harry brachte kein Wort heraus, sondern starrte Nola einfach nur an. Laut weinend rannte sie in die Nacht hinaus.
»Es war eine grauenhafte Nacht«, erzählte mir Harry im Besuchszimmer des Staatsgefängnisses. »Das zwischen Nola und mir war sehr stark. Sehr stark, verstehen Sie? Es war total verrückt. Eine Liebe, wie man sie nur einmal im Leben erlebt! Ich sehe sie noch, wie sie an jenem Abend am Strand davongerannt ist. Ich habe mich gefragt, was ich tun soll: ihr nachlaufen? Mich weiter zu Hause verkriechen? Allen Mut zusammennehmen und die Stadt verlassen? Die darauffolgenden Tage habe ich am See in der Nähe von Montburry verbracht, um nicht in Goose Cove zu sein, falls sie wiederkam. Was mein Buch betraf, also den Grund für meinen Umzug nach Aurora, für den ich all meine Ersparnisse geopfert hatte – es ging nicht voran. Jedenfalls nicht mehr. Nach den ersten paar Seiten hatte ich wieder eine Blockade. Es war ein Buch über Nola, aber wie sollte ich es ohne sie schreiben? Wie kann man eine Liebesgeschichte schreiben, die von vornherein zum Scheitern verurteilt ist? Ich habe stundenlang vor einem Blatt Papier gesessen, stundenlang für eine Handvoll Wörter, für drei Zeilen. Drei schlechte Zeilen, abgedroschene Banalitäten. Es war ein erbärmlicher Zustand, in dem man einen Hass auf alles entwickelt, was mit Büchern und Schreiben zu tun hat, weil alles besser ist als man selbst. Das geht so weit, dass einem sogar die Speisekarte im Restaurant vorkommt, als wäre sie mit maßlosem Talent abgefasst: T-Bone-Steak: acht Dollar – welche Meisterschaft! Es war der absolute Horror, Marcus: Ich war unglücklich, und meinetwegen war auch Nola unglücklich. Fast eine Woche lang bin ich ihr aus dem Weg gegangen. Dabei ist sie abends mehrmals nach Goose Cove gekommen. Sie hat Wiesenblumen mitgebracht, die sie für mich gepflückt hatte, an die Tür geklopft und gebettelt: ›Harry, allerliebster Harry, ich brauche Sie! Bitte lassen Sie mich herein! Lassen Sie mich wenigstens mit Ihnen reden!‹ Aber ich habe mich tot gestellt. Ich habe gehört, wie sie sich gegen die Tür sinken ließ und schluchzend weiterklopfte. Und ich habe auf der anderen Seite gestanden und mich nicht gerührt, sondern abgewartet. Manchmal ist sie über eine Stunde geblieben. Dann habe ich gehört, wie sie die Blumen vor die Tür gelegt hat und gegangen ist. Ich bin ans Küchenfenster gestürzt und habe ihr auf dem Kiesweg nachgeblickt. Am liebsten hätte ich mir das Herz herausgerissen, so sehr habe ich mich nach ihr verzehrt. Aber sie war erst fünfzehn. Die Frau, nach der ich verrückt vor Liebe war, war erst fünfzehn! Also habe ich die Blumen aufgehoben und sie wie die anderen Sträuße, die sie mir gebracht hatte, im Wohnzimmer in eine Vase gestellt. Ich habe diese Blumen stundenlang angesehen. Ich war so einsam und traurig. Und dann ist am darauffolgenden Sonntag, den 13. Juli 1975, diese schreckliche Sache passiert.«
Sonntag, 13. Juli 1975
Vor dem Haus in der Terrace Avenue 245 herrschte dichtes Gedränge. Die Nachricht hatte sich bereits in der Stadt herumgesprochen. In Umlauf gebracht hatte sie Chief Pratt oder vielmehr seine Frau Amy, nachdem ihr Mann dringend zu den Kellergans gerufen worden war. Amy Pratt hatte sofort ihre Nachbarin informiert, die hatte mit einer Freundin telefoniert, und diese wiederum hatte ihre Schwester angerufen, deren Kinder sich auf ihre Fahrräder geschwungen und bei sämtlichen Freunden an der Haustür geklingelt hatten: Es war etwas Schlimmes passiert. Vor dem Haus der Kellergans parkten zwei Polizeiautos und ein Krankenwagen. Officer Travis Dawn hielt die Schaulustigen auf dem Gehsteig zurück. Aus der Garage dröhnte laute Musik.
Es war Erne Pinkas, der Harry um Punkt zehn Uhr vormittags verständigte. Als Harry ihm auf sein An-die-Tür-trommeln im Morgenmantel und mit zerzaustem Haar öffnete, begriff Erne, dass er ihn geweckt hatte.
»Ich bin hierhergekommen, weil ich mir
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