Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
Tische fettverschmiert waren, dass es im Restaurant zu warm und die Toasts nicht gut waren und dass sie für ihr Essen nicht einen Cent bezahlen würde, dass zwei Dollar für einen Kaffee Diebstahl waren, dass sie ihr dieses Restaurant nie überlassen hätte, wenn sie gewusst hätte, dass Jenny es zu einer zweitklassigen Kaschemme herunterwirtschaften würde; dabei hätte sie so große Pläne für dieses Lokal gehabt, in das die Leute übrigens früher wegen ihrer Hamburger aus dem ganzen Staat gekommen wären, weil sie als die besten weit und breit gegolten hätten. Als Tamara merkte, dass ich zuhörte, warf sie mir einen abschätzigen Blick zu und keifte: »Sie da, junger Mann, was geht Sie das an?«
Mit scheinheiligem Gesicht drehte ich mich zu ihr um. »Ich? Ich höre gar nicht zu, Madam.«
»Natürlich hören Sie zu, denn Sie antworten mir ja! Woher kommen Sie?«
»Aus New York, Madam.«
Schlagartig wurde sie umgänglicher, als hätte das Wort »New York« sie besänftigt, und fragte mich honigsüß: »Was treibt einen jungen, gut aussehenden New Yorker wie Sie nach Aurora?«
»Ich schreibe ein Buch.«
Augenblicklich verfinsterte sich ihr Gesicht, und sie zeterte: »Ein Buch? Sie sind Schriftsteller? Ich hasse Schriftsteller! Das ist eine Bande von Müßiggängern, Taugenichtsen und Lügnern. Wovon leben Sie? Von staatlicher Unterstützung? Meiner Tochter gehört dieses Restaurant, und ich warne Sie: Mit Anschreiben läuft hier nichts! Wenn Sie also nicht bezahlen können, hauen Sie ab. Hauen Sie ab, bevor ich die Polizei rufe. Der Polizeichef ist mein Schwiegersohn.«
Jenny, die hinter der Theke stand, wirkte bestürzt. »Mom, das ist Marcus Goldman. Er ist ein bekannter Schriftsteller.«
Die alte Quinn verschluckte sich fast an ihrem Kaffee. »Gütiger Gott, sind Sie etwa der kleine Rotzlöffel, der immer an Queberts Rockzipfel gehangen hat?«
»Ja, Madam.«
»Sind Sie aber groß geworden! Wollen Sie meine Meinung über Quebert wissen?«
»Nein danke, Madam.«
»Ich sage sie Ihnen trotzdem. Ich halte ihn für einen abgefeimten Hurensohn, der den elektrischen Stuhl verdient!«
»Mom!«, protestierte Jenny.
»Das ist die Wahrheit!«
»Mom, hör auf!«
»Halt den Mund, Tochter. Jetzt rede ich. Und jetzt hören Sie gut zu, Sie bescheuerter Schriftsteller: Wenn Sie auch nur ein Fünkchen Anstand haben, schreiben Sie die Wahrheit über Harry Quebert. Er ist der letzte Schweinehund, ein Perverser, eine linke Bazille und ein Mörder. Er hat die kleine Nola, die alte Cooper und in gewisser Weise auch meine Jenny umgebracht.«
Jenny floh in die Küche. Ich glaube, sie weinte. Kerzengerade auf ihrem Barhocker sitzend, erzählte mir Tamara Quinn mit zornblitzenden Augen und erhobenem Zeigefinger den Grund für ihren Groll und auch, wie Harry Quebert ihren Namen entehrt hatte. Die Begebenheit, von der sie mir nun berichtete, hatte sich am Sonntag, den 13. Juli 1975, zugetragen, der für die Familie Quinn eigentlich zu einem denkwürdigen Datum hätte werden sollen, denn an jenem Tag hatte sie auf ihrem frisch gemähten Rasen ab Mittag (wie auf der an das knappe Dutzend Gäste verschickten Einladungskarte stand) zur Gartenparty geladen.
13. Juli 1975
Es war ein großes Ereignis, und entsprechend groß hatte Tamara Quinn die Sache aufgezogen: ein Festzelt im Garten, Tafelsilber und weiße Tischdecken, ein aus Fisch- und kalten Fleischhäppchen, Platten mit Meeresfrüchten und russischem Salat bestehendes Büfett von einem Feinkosthändler aus Concord. Ein Kellner mit Referenzen war verpflichtet worden, um die Gäste mit kalten Getränken und italienischem Wein zu versorgen. Alles sollte perfekt sein. Dieser Lunch sollte eine mondäne Veranstaltung ersten Ranges werden: Gleich würde Jenny der Prominenz von Aurora offiziell ihren neuen Freund vorstellen.
Es war zehn Minuten vor zwölf. Stolz betrachtete Tamara das Arrangement in ihrem Garten: Alles war bereit. Wegen der Hitze wollte sie bis zur letzten Minute warten, bevor sie die Platten heraustragen ließ. Ach, wie sich alle an den Jakobs- und Venusmuscheln und an den Hummerschwänzen delektieren würden, während sie den geistreichen Gesprächen Harry Queberts mit der wundervollen Jenny am Arm lauschten! Das hatte etwas Grandioses, und als Tamara sich die Szene ausmalte, bebte sie innerlich vor Vorfreude. Nach einem letzten Blick auf ihre Vorbereitungen, ging sie noch einmal die Tischordnung durch, die sie auf einem Blatt Papier notiert hatte, und
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