Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Wahrheit über Marie - Roman

Die Wahrheit über Marie - Roman

Titel: Die Wahrheit über Marie - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frankfurter Verlags-Anstalt
Vom Netzwerk:
Ausdruck von Kälte, etwas Distanziertes, Hartes, Verschlossenes, ja Trotziges ging von ihr aus, die Gesichtsmuskeln waren angespannt, die Wangen verkrampft, es war dieser Ausdruck von kalter Wut und Furor, den ich an ihr kannte, wenn sie ihre Gefühle verbergen oder ihre Erregung verstecken musste, selbst wenn sie dabei das Risiko einging, in Tränen auszubrechen. Plötzlich musterte sie mich verächtlich, und um ihre Mundwinkel erschienen kleine, hässliche Falten, ein Ausdruck, den ich an ihr nicht kannte, und dann blitzte ein Schimmer des Hasses aus ihren Augen. Warum kam jedes Mal, wenn wir zusammen waren, der Augenblick, an dem sie mich plötzlich, völlig übergangslos, von einem Moment zum anderen, so leidenschaftlich hasste?
    Als sie mich nach der Grappaflasche hatte greifen sehen, musste Marie sich durchschaut gefühlt haben. Sie hatte zweifellos sofort begriffen, dass diese Flasche Grappa sie verraten würde, dass das Vorhandensein dieser Flasche hier in diesem Zimmer in dieser Nacht etwas Anstößiges hatte, schamlos, zutiefst unanständig war, dass ich, da ich die Flasche Grappa gesehen hatte, auch wissen musste, dass sie in dieser Nacht in Gesellschaft von Jean-Christophe de G. Grappa getrunken hatte, und nun, da ich wusste, dass sie in dieser Nacht mit Jean-Christophe de G. Grappa getrunken hatte, ich mir auch ausmalen konnte, was zwischen den beiden hier im Schlafzimmer passiert war. Sie hatte sofort begriffen, dass diese Flasche Grappa der greifbare Beweis war, von dem aus ich mir vorstellen konnte, was sie erlebt hatte, ausgehend von diesem einen Detail, ausgehend von nur einer einzigen Flasche Grappa, konnte ich alles, was sich zwischen den beiden in diesem Zimmer zugetragen hatte, rekonstruieren – bis hin zu ihren Küssen und dem Grappageschmack ihrer Küsse –, wie in einem Traum, in dem ein einziges Element aus dem intimsten wirklichen Leben eine Flut von imaginären Momenten hervorbringen kann, deren Wahrhaftigkeit nicht weniger anfechtbar ist, und ich nun, da ich über einen solchen handgreiflichen ersten Anhaltspunkt (die Flasche Grappa) und über einen nachträglichen visuellen Anhaltspunkt verfügte (ich war Zeuge gewesen, wie die Trage in die Nacht hinausgeschafft worden war), in der Lage war, die Lücke zu schließen, um das, was diese Nacht in der Zwischenzeit geschehen war und was Marie in meiner Abwesenheit erlebt hatte, zu rekonstruieren oder mir auszudenken.
    Marie blieb noch einen langen Moment schweigend sitzen, nachdenklich, mit gekreuzten Armen, und starrte mit einem gereizten Ausdruck auf meine nassen Kleider auf der Kommode, sprang dann plötzlich auf und verlangte von mir, das Möbel, meine Kommode, sofort wegzuschaffen, auf der Stelle, mitsamt all meinen Sachen. Es habe schon lange genug gedauert, fünf Monate habe sie diese Scheußlichkeit in ihrem Schlafzimmer ertragen müssen, wir müssten es sofort in den Keller schaffen, keine Sekunde länger wolle sie mehr warten, nicht den geringsten Aufschub erdulden. Das war kein Vorschlag, das war ein Befehl. Sie könne den Kasten nicht mehr sehen, sie sagte »Kasten«, sie nannte meine Kommode einen »Kasten«, mit einer derart unverhohlenen Abscheu, als würde die Verachtung, die sie für das Möbel empfand, sich in diesem Wort selbst fortsetzen: Kasten. Kasten. Mit nackten Schenkeln unter ihrem zu weiten weißen T-Shirt stapfte sie zu dem Kasten hinüber und versuchte außer sich vor Wut, ihn mit den Händen anzuheben, egal wie, aber das Möbel verfügte über keinerlei Griffe, weder seitlich noch vorne, es gab schlichte, dekorative Ausbuchtungen des Holzes, an denen man sich aber unmöglich festhalten konnte. Ich ging zu ihr hinüber, um ihr zu helfen, stellte mich auf die andere Seite der Kommode, gemeinsam und mit größter Mühe bekamen wir das Möbel vom Boden hoch, vielleicht gerade mal zehn Zentimeter, es war wirklich sehr schwer, doch bevor wir es gleich wieder abstellen konnten, ließ Marie einfach los, ließ es einfach fallen, unternahm nichts, es zu halten, ließ es so heftig auf den Boden knallen, dass sich mit der Kante der Füße tiefe Kerben ins Parkett gruben. Marie zuckte zusammen, machte einen kleinen Satz zur Seite, sie war barfuß, dann verlor sie die Geduld, wurde fuchsteufelswild, sagte, dass ich es jetzt ja wohl sähe, dass es sich nicht so einfach wegschaffen lasse, dass es zu schwer sei, man es leerräumen müsse, und sie begann, die Schubladen herauszuziehen und in meine Kleider zu greifen, sie

Weitere Kostenlose Bücher