Die Wahrheit
Tut mir leid. Weder bei den normalen Eingaben noch bei den IFP-Anträgen.«
»Aber ich habe eine Empfangsbescheinigung! Sie belegt, daß Sie einen entsprechenden Antrag erhalten haben.«
Die Stimme am anderen Ende der Leitung wiederholte die oberflächliche Antwort.
»Sind Sie in Ihrem hohen Hause nicht mal imstande, Ihre Post im Auge zu behalten?«
Die höfliche Antwort des Mannes fiel bei Rider nicht auf fruchtbaren Boden. »Rufus Harms verrottet in einem beschissenen Knast«, brüllte er ins Telefon, »und Sie wissen nicht mal, wo Ihre Post geblieben ist!« Er knallte den Hörer auf die Gabel.
Rufus Harms’ Eingabe war zwar beim Gericht eingegangen, aber verschwunden, bevor sie ordnungsgemäß abgelegt worden war. Und Harms selbst war ebenfalls wie vom Erdboden verschluckt. Plötzlich fröstelte Rider.
Wieder warf er einen Blick in die Zeitung. Ein Assessor am Obersten Gerichtshof. Ermordet. Es kam Rider weit hergeholt vor - doch das galt auch für die Geschichte, die Rufus ihm erzählt hatte. Dann aber kam ihm ein anderer Gedanke, der ihm noch mehr zu schaffen machte: Wenn sie Rufus und diesen Assessor ermordet hatten, weil es irgendeinen Zusammenhang gab, würden sie damit bestimmt nicht aufhören. Wenn sie den Antrag haben, den ich bei Gericht eingereicht habe, dachte Rider schaudernd, wissen sie, welche Rolle ich dabei gespielt habe. Und das wiederum hieß, daß er vielleicht der nächste auf ihrer Liste war.
Jetzt hör endlich auf, ermahnte er sich. Mach dich nicht verrückt! Und dann endlich dämmerte es ihm: Die Aufstellung der Anrufe, die Sheila entgegengenommen hatte, als er verreist war. Er hatte die Liste oberflächlich durchgesehen und die wichtigsten Anrufe erwidert. Der Name, der verdammte Name!
Rider durchwühlte den Schreibtisch, bis er den rosafarbenen Notizblock gefunden hatte. Mit fliegenden Fingern blätterte er ihn durch, suchte, suchte, riß den Block in seiner aufsteigenden Panik schließlich auseinander, bis er den Namen gefunden hatte. Er starrte darauf, und das Blut wich langsam aus seinem Gesicht. Michael Fiske hatte ihn angerufen. Zweimal.
O Gott. Riders Gedanken überschlugen sich. Vor dem inneren Auge sah er seine Frau, die Eigentumswohnung in Florida, ihre erwachsenen Kinder, all die Jahre der elenden Schufterei.
Verdammt, er würde nicht einfach warten, bis sie kamen und ihn holten. Er drückte auf den Knopf der Gegensprechanlage und sagte Sheila, ihm wäre nicht gut; sie solle es seinem Besucher und den anderen Herren ausrichten, die in Kürze einträfen, und sie nach Kräften unterstützen.
»Ich komme heute nicht mehr ins Büro, Sheila«, sagte Rider, als er durch den Empfangsbereich eilte. Hoffentlich komme ich überhaupt noch mal zurück. Und nicht in einem Sarg, fügte er stumm hinzu.
»In Ordnung, Mr. Rider. Passen Sie auf sich auf.«
Beinahe hätte er über Sheilas Bemerkung gelacht. Bevor er das Büro verließ, hatte er zu Hause angerufen, aber seine Frau war nicht da. Als Rider losfuhr, wußte er bereits, was er tun würde. Sie beide spielten schon lange mit dem Gedanken, im Spätherbst Urlaub zu machen, vielleicht auf eine der Inseln vor der Küste von Florida zu fliegen, noch ein wenig Sonne zu tanken und im Meer zu schwimmen, bevor der Winter kam. Aber jetzt würden sie länger fortbleiben. Sehr lange. Rider zog es vor, all seine Ersparnisse aufzubrauchen, aber am Leben zu bleiben, statt sich den Blick auf einen Sonnenuntergang in Florida zu verschaffen, den er vielleicht nie sehen würde.
Sie konnten nach Roanoke fahren und dort eine Pendlermaschine nach Washington oder Richmond nehmen. Von da aus konnten sie überallhin fliegen. Er würde es seiner Frau erklären, indem er vorgab, endlich mal einen spontanen Entschluß gefaßt zu haben. Seine Frau behauptete ohnehin, er verplane alles zu sehr. Der gute alte, beständige, zuverlässige Sam Rider. Hat nichts anderes im Leben getan als hart zu arbeiten, seine Rechnungen zu bezahlen, die Kinder großzuziehen, seine Frau zu lieben und zu versuchen, bei alledem einen kleinen Zipfel vom Glück zu fassen zu kriegen. Mein Gott, ich schreibe schon meinen Nachruf, wurde ihm klar.
Falls er seinen Entschluß verwirklichte, konnte er Rufus nicht mehr helfen. Doch Rider vermutete, daß der Mann ohnehin schon tot war. Tut mir leid, Rufus, dachte er. Aber du bist jetzt an einem besseren Ort, an einem viel besseren als dem, den diese Arschlöcher dir auf dieser Erde zugedacht haben.
Ein plötzlicher Gedanke ließ Rider
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