Die Wahrheit
Zwischen der Palme und dem Haus erstreckte sich eine Spindelstrauchhecke; der Boden unter der Hecke war mit scharlachroten Blättern übersät. Hinter dem Haus sah Fiske die Treppe, die hinunter zum Wasser führte. Er glaubte, dahinter die auf den Wellen tanzende Spitze eines Segelmasts auszumachen. Er und Sara stiegen aus; dann nahm Fiske die frische Kleidung vom Rücksitz, die er aus seiner Wohnung geholt hatte.
»Ein schönes Haus«, sagte er.
Sara streckte sich und gähnte herzhaft. »Als ich die Assessorenstelle bekam, bin ich von North Carolina hierhergeflogen, um mir in der Gegend ein Haus zu suchen. Zuerst wollte ich es nur mieten, aber dann entdeckte ich dieses Cottage und habe mich darin verliebt. Also flog ich wieder nach Hause, verkaufte die Farm und legte mir dieses Häuschen zu.«
»Muß ziemlich schwierig für sie gewesen sein, in North Carolina alles zu verkaufen.«
Sara schüttelte den Kopf. »Das Land war mir nur wegen meiner Eltern wichtig, und die waren tot. Eigentlich war die Farm nur ein Flecken Erde, mit dem ich nichts mehr anfangen konnte.« Sie streckte sich noch einmal und ging zum Haus. »Ich setze Kaffee auf.« Dann schaute sie auf die Uhr und stöhnte leise. »Ich komme zu spät zu einer mündlichen Verhandlung. Eigentlich müßte ich anrufen, aber was soll ich denen sagen?«
»Unter den gegebenen Umständen wird man verstehen, daß Sie heute etwas später kommen.«
»Sollte man meinen, nicht wahr?« erwiderte sie zweifelnd.
Fiske zögerte. »Haben Sie eine Landkarte?«
»Was für eine?«
»Von der östlichen Hälfte der USA.«
Sie dachte kurz nach. »Sehen Sie mal im Handschuhfach nach.«
Fiske tat wie geheißen und zog die Karte hervor. »Wonach suchen Sie?« fragte Sara, als sie ins Haus gingen.
»Ich habe über die zwölfhundert Kilometer nachgedacht, die Mike gefahren ist.«
»Und Sie wollen herausfinden, was sich zwölfhundert Kilometer entfernt befindet?«
»Nein, sechshundert.« Sara blickte ihn verwirrt an. »Sechshundert Kilometer hin, sechshundert zurück. Man hat den Wagen in Washington gefunden. Mike oder jemand anders muß ihn zurückgefahren haben.«
»Aber vielleicht ist er mehrere kürzere Strecken gefahren, nicht sechshundert Kilometer hin und zurück.«
Fiske schüttelte den Kopf. »Es ist nicht gerade angenehm, an einem heißen Tag mit einer Leiche im Kofferraum durch die Gegend zu kutschieren. Als Cop habe ich ein paar solcher Leichen gefunden«, fügte er grimmig hinzu.
Während Sara in der Küche den Kaffee aufsetzte, schaute Fiske durchs Fenster zum Fluß hinaus. Von hier aus konnte er die Anlegestelle aus druckbehandeltem Holz und das daran vertäute Segelboot sehen.
»Kommen Sie oft zum Segeln?«
»Schwarz oder mit Milch?«
»Schwarz.«
Sara nahm zwei Tassen aus dem Schrank. »Nicht so oft wie früher. Als ich noch in North Carolina wohnte, hatte ich praktisch gar kein Verhältnis zum Wasser. Ich war mit meinem Dad schon mal zum Angeln oder zum Schwimmen zu einem Teich, ein paar Kilometer von unserer Farm entfernt. Aber erst in Stanford bin ich auf den Geschmack gekommen. Man weiß gar nicht, was Größe ist, bis man den Pazifik sieht. Nie zuvor hatte ich etwas so Gewaltiges gesehen.«
»Ich war nie dort.«
»Sagen Sie mir Bescheid, wenn Sie mal hinfahren wollen. Ich könnte Ihnen alles zeigen.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus der Stirn, schenkte ihm Kaffee ein und reichte ihm die Tasse.
»Ich werde daran denken«, sagte er trocken.
»Ich habe nur ein Badezimmer. Wir müssen also nacheinander duschen.«
»Gehen Sie zuerst. Ich will mir mal diese Landkarte anschauen.«
»Wenn ich in zwanzig Minuten nicht wieder unten bin, klopfen Sie bitte an. Dann bin ich wahrscheinlich in der Dusche eingeschlafen.«
Fiske betrachtete die Karte, nippte am Kaffee und sagte nichts dazu. Sara blieb auf der Treppe stehen.
»John?« Er schaute auf. »Ich hoffe, Sie können mir vergeben, was diese Nacht geschehen ist.« Sie hielt inne, als müsse sie darüber nachdenken, was sie gerade gesagt hatte. »Das Problem ist nur, ich selbst bin nicht der Ansicht, daß man mir verzeihen sollte.«
Fiske setzte die Tasse ab und blickte Sara an. Das Sonnenlicht fiel warm und weich durchs Fenster, ließ ihr Gesicht erstrahlen, hob das Funkeln ihrer Augen und die sinnlichen Konturen ihrer Lippen hervor. Ihr Haar hing schlaff herab, was dem Flußwasser, dem Schweiß und dem Umstand zu verdanken war, daß sie im Wagen geschlafen hatte. Das bißchen Make-up, das sie
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