Die Wahrheit
beinahe umkehren. Er hatte die Kopien des Antrags, den er für Rufus geschrieben hatte, im Büro gelassen. Sollte er zurückfahren? Schließlich aber sagte er sich, daß sein Leben mehr wert war als ein paar Blatt Papier. Was konnte er jetzt überhaupt noch damit anfangen?
Er konzentrierte sich auf die Straße. Die Strecke zwischen seinem Büro und seinem Haus war wenig befahren und ziemlich einsam - gewundene Straßen, Wald und Wildtiere: Vögel, dann und wann ein Hirsch oder ein Schwarzbär. Diese Abgeschiedenheit hatte Rider bislang nie etwas ausgemacht. Nun aber jagte sie ihm Angst ein. Zu Hause hatte er ein Schrotgewehr, mit dem er manchmal Wachteln schoß. Er wünschte, er hätte die Waffe dabei.
Die Straße beschrieb eine scharfe S-Kurve, und nur ein rostiges Geländer stand zwischen Rider und einem Sturz in eine hundertfünfzig Meter tiefe Schlucht. Als er auf die Bremse trat, stockte ihm der Atem. Die Bremsen. O Gott, wenn jemand dafür gesorgt hatte, daß sie nicht funktionierten, dann .
Rider schrie laut auf. Dann aber faßten die Bremsen. Dreh jetzt nicht durch, Sam! ermahnte er sich. Ein paar Minuten später bog er schweißgebadet um die letzte Ecke und sah den Briefkasten vor seinem Haus, der in der Auffahrt stand, auf einen Pfosten montiert. Augenblicke später fuhr Rider den Wagen in die Doppelgarage. Das Auto seiner Frau stand ebenfalls darin.
Als er an ihrem Wagen vorüberging, schaute er hinein - und seine Füße schienen im Betonboden zu versinken. Seine Frau lag zusammengekrümmt über dem Lenkrad. Selbst aus dieser Entfernung konnte Rider das Blut sehen, das aus der Kopfwunde quoll. Es war die vorletzte Erinnerung, die Rider in seinem Leben haben sollte. Die Hand kam von hinten und preßte ihm ein großes Tuch aufs Gesicht, das einen widerwärtigen Geruch nach Operationssaal verströmte. Der Mann, der Rider von hinten gepackt hielt, drückte ihm irgend etwas in die Hand. Vor den Augen des Anwalts verschwamm bereits alles; die Lider wurden ihm schwer, und als er ein letztes Mal im Leben den Blick senkte, sah und fühlte er die noch warme Pistole. Zwei Hände in Latexhandschuhen zwangen Riders Finger um den Griff. Es war seine eigene Waffe, mit der er Schießübungen machte. Verschwommen wurde ihm klar, daß man mit dieser Waffe auch seine Frau getötet hatte. Und weil das Metall noch warm war, mußte der Schuß gefallen sein, als er auf die Auffahrt abgebogen war. Sie mußten ihn beobachtet haben.
Rider bog den Kopf zurück und starrte in die kalten, klaren Augen von Victor Tremaine, während er tiefer und tiefer in die Schwärze der Bewußtlosigkeit versank. Dieser Mann hatte seine Frau getötet ... aber man würde ihm, Sam Rider ... die Schuld geben. Aber ... was ... machte das ... schon. Er war ... ebenfalls ... tot. Mit diesem Gedanken schlossen Samuel Riders Augen sich zum letztenmal.
KAPITEL 33
Als sie sich dicht vor der Altstadt von Alexandria auf dem George Washington Parkway befanden, sah Fiske einen Radfahrer, der wie ein Schemen an den Bäumen vorbeihuschte, welche den asphaltierten Radweg entlang des Flusses säumten. Fiske stieß Sara an. Sie erwachte und erklärte ihm auf seine Frage, wo er vom Parkway abbiegen mußte, wobei sie ihm einen kurzen Blick zuwarf. Auf der Rückfahrt hatten sie den Zwischenfall mit Fiskes Vater nicht mehr erwähnt, als hätten sie eine stillschweigende Übereinkunft getroffen, nicht darüber zu reden.
Fiske richtete sich nach Saras Wegbeschreibung, fuhr eine weitere asphaltierte Straße entlang und bog dann nach rechts auf einen Kiesweg ab, der steil zum Ufer hinunterführte. Schließlich hielt er vor dem kleinen, holzverkleideten Cottage, das steif und wie verloren zwischen dem ungepflegten Gewirr aus Bäumen, Dornensträuchern und Wildblumen stand - wie eine Pfarrersfrau auf einem Picknick der Kirchengemeinde, bei dem es zu einer Keilerei gekommen war. Das Haus besaß schwarze Schlagläden und einen breiten, rotbraunen Schornstein aus Ziegeln, und die weißen Schindeln waren fünfzig Jahre lang immer wieder neu gestrichen worden. Fiske sah ein Eichhörnchen, das über die Telefonleitung flitzte, aufs Dach sprang und dann den Schornstein hinaufhuschte.
In einer Ecke des Grundstücks stand ein Indischer Flieder in voller Blüte. Seine Rinde besaß die Beschaffenheit und Farbe von Rehleder. Auf der anderen Seite des kleinen Hauses stand eine sechs Meter hohe Stechpalme; zwischen den dunkel grünen Blättern spähten wie Zierat rote Beeren hervor.
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