Die Wahrheit
lange, burgunderrote Vorhang hinter dem Richtertisch teilte sich an neun verschiedenen Stellen, und dieselbe Anzahl von Richtern erschien. Sie wirkten steif und mürrisch in ihren schwarzen Roben, als wären sie soeben aus dem Schlaf hochgefahren und hätten festgestellt, daß sich neben ihren Betten eine Menschenmenge versammelt hatte. Als sie Platz nahmen, fuhr Perkins fort: »Hört, hört, hört. Wer dem ehrenwerten Obersten Gericht der Vereinigten Staaten etwas vorzubringen hat, der möge in Respekt und Achtung vortreten, denn das Gericht sitzt nun zu Rate. Gott schütze die Vereinigten Staaten und dieses hohe Gericht.«
Perkins setzte sich und ließ den Blick durch den quadratischen Gerichtssaal schweifen, der die Ausmaße eines kleinen Sportfeldes besaß. Die mehr als dreizehn Meter hohe Decke ließ das Auge beinahe nach dahinziehenden Wolken suchen. Nach einigen Präliminarien und der Vereidigung neuer, vor dem Obersten Gericht zugelassener Anwälte würde der erste der beiden Fälle aufgerufen werden. An diesem Tag, einem Mittwoch, würden am Morgen nur zwei Fälle verhandelt werden. Nachmittags tagte das Gericht ohnehin nur am Montag und Dienstag. Donnerstags und freitags fanden keine mündlichen Verhandlungen statt. Und so würde es bis Ende April weitergehen, drei Tage die Woche, alle vierzehn Tage - etwa einhundertfünfzig mündliche Verhandlungen, bei denen die Richter die Rolle eines modernen Salomo für das Volk der Vereinigten Staaten übernahmen.
Beide Seiten des Gerichtssaals wurden von beeindruckenden Friesen geziert. Auf der rechten sah man Gesetzesschaffende aus dem vorchristlichen Altertum, auf der linken ihre Gegenstücke aus nachchristlicher Zeit. Zwei Heere, die bereit standen, übereinander herzufallen. Vielleicht um zu entscheiden, wer recht gehandelt hatte. Moses gegen Napoleon, Hammurabi gegen Mohammed. Das Gesetz, die Verkündung von Gerechtigkeit, konnte äußert schmerzhaft sein - sogar blutig. Unmittelbar über dem Richtertisch befanden sich zwei Marmorstatuen. Die eine stellte die Majestät des Gesetzes dar, die andere die Macht der Regierung. Zwischen ihnen befand sich eine Tafel mit den Zehn Geboten. Und an den Wänden der riesigen Halle stand eine Vielzahl von Skulpturen - Hüter der Rechte des Volkes, Schutzgeister der Weisheit und der Kunst der Staatsführung, Verteidiger der Menschenrechte. Sie alle symbolisierten die Rolle des Gerichts. Wenn es je eine harmonisch gestaltete Bühne für die Anhörung von Fragen höchster moralischer und sittlicher Bedeutung gegeben hatte, dann war es diese erhabene Szenerie. Doch die Beschaffenheit des Geländes kann trügerisch sein.
Ramseys Platz war in der Mitte des Richtertisches, Elizabeth Knight saß ganz rechts außen. Ein Auslegermikrophon hing von der Mitte der Decke herab. Die Mütter und Väter, die auf den Zuschauerrängen saßen, hatten sich merklich angespannt, als die Richter in den Saal getreten waren. Selbst ihre quengeligen, gelangweilten Kinder saßen nun ein wenig gerader. Eine verständliche Reaktion, selbst für diejenigen, die mit dem Ruf dieses Gerichts nicht so vertraut waren. Denn man konnte deutlich spüren, welche Macht sich hier konzentrierte, welche wichtigen Konfrontationen hier bevorstanden.
Diese neun mit schwarzen Roben bekleideten Richter legten unumstößlich fest, wann Frauen legal abtreiben durften; sie schrieben Schulkindern vor, wo sie lernen mußten; sie bestimmten, welche Begriffe obszön waren und welche nicht; sie entschieden, daß die Polizei ohne richterliche Verfügung keine Wohnung durchsuchen und keine Geständnisse erzwingen durfte. Waren diese Richter in ihr Amt gewählt, behielten sie es ihr Leben lang und waren praktisch gegen jede Anfechtung gefeit. Und sie wirkten auf einer so geheimnisvollen Ebene, in einem so unergründlichen Schwarzen Loch, daß einem andere bedeutende Menschen, die weit mehr im Licht der Öffentlichkeit standen, ja selbst die Mitglieder anderer ehrwürdiger Bundesinstitutionen belanglos und dünkelhaft erschienen. Diese Richter beschäftigten sich routinemäßig mit Themen, die Menschen im ganzen Land dazu trieben, Andersdenkenden die Köpfe einzuschlagen, Bomben in Abtreibungskliniken zu legen und vor den Hinrichtungstrakten der Gefängnisse zu demonstrieren. Sie befaßten sich mit Fragestellungen, die dermaßen komplex waren, daß sie die menschliche Zivilisation bis zu ihrem Untergang heimsuchen würden. Und dennoch sahen sie ruhig und gelassen aus.
Der erste
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