Die Wahrheit
sein, wenn sie doch genau so empfand?
Und es war nicht das einzige Mal gewesen, daß sie John gesehen hatte. Michael wußte nichts davon, aber sie hatte bei einer Freundin im Gericht in Richmond angerufen und sich John Fiskes Verhandlungstermine in den nächsten vierzehn Tagen durchgeben lassen. Es hatte sie verwundert, wie oft der Mann vor Gericht auftrat. Im vergangenen Sommer, als es am Obersten Gerichtshof ein bißchen ruhiger zuging, war Sara noch einmal nach Richmond gefahren und hatte sich John Fiskes Plädoyer unmittelbar vor der Urteilsverkündung angehört. Sie hatte ein Kopftuch und eine Brille getragen - nur für den Fall, daß sie Fiske später vorgestellt wurde oder daß er sie beim erstenmal gesehen hatte, als sie ihn zusammen mit Michael beobachtet hatte.
Fiske hatte sich energisch für seinen Mandanten eingesetzt. Doch kaum hatte er sein Plädoyer beendet, hatte der Richter den Angeklagten zu lebenslanger Haft verurteilt. Fiske hatte sich seinen Aktenkoffer geschnappt und den Gerichtssaal verlassen, als sein Mandant abgeführt wurde, um seine Strafe anzutreten. Draußen hatte Sara beobachtet, wie Fiske versucht hatte, die Familie des Mannes zu trösten. Die Frau war erbärmlich dünn und sah krank aus; ihr Gesicht war mit blauen Flecken und Schwellungen übersät.
Fiske sprach ein paar Worte mit der Frau, umarmte sie und wandte sich dann dem ältesten Sohn zu, einem jungen Mann von vierzehn Jahren, der schon so aussah, als würde er ein hingebungsvoller Sklave der Straße werden.
»Du bist jetzt der Mann im Haus, Lucas. Du mußt auf deine Familie aufpassen«, sagte Fiske.
Sara musterte den Teenager. Es schmerzte sie, den Zorn in seinem Gesicht zu sehen. Wie konnte jemand, der noch so jung war, so viel Feindseligkeit in sich bergen?
»Hm«, sagte Lucas und starrte die Wand an. Er hatte sich schon für die Straße gerüstet, für die Bandenarbeit. Um den Kopf hatte er ein Tuch geschlungen, und er trug Kleidung, die sich niemand leisten konnte, der bei McDonald’s Hamburger wendete.
Fiske kniete nieder und schaute den anderen Sohn an. Enis war sechs Jahre alt, verdammt niedlich und ungewöhnlich quirlig.
»He, Enis, wie geht’s dir so?« sagte Fiske und streckte die Hand aus.
Enis ergriff sie mißtrauisch und schüttelte sie. »Wo ist mein Daddy?«
»Er muß für ’ne Weile weg.«
»Warum?«
»Weil er einen umge...«, begann Lucas; dann brachte Fiske ihn mit einem scharfen Blick zum Schweigen. Lucas murmelte ein Schimpfwort, schüttelte die zitternde Hand seiner Mutter ab und stelzte davon.
Fiske schaute wieder Enis an. »Dein Daddy hat was getan, da ist er selbst böse darauf. Jetzt geht er weg, damit alles wieder gut wird.«
»Ins Gefängnis?« fragte Enis. Fiske nickte.
Während Sara dieses Gespräch verfolgte, kam ihr in den Sinn, daß sich Fiske - und Erwachsene im allgemeinen - heutzutage in solchen Situationen wohl töricht und unbeholfen vorkamen, wie Gestalten aus einer Comedy-Serie der fünfziger Jahre, die versuchten, sich mit einem Kind des zweiten Jahrtausends zu befassen. Selbst mit sechs Jahren wußte Enis vermutlich eine Menge über das Strafrechtsystem. Und über das Böse im Leben wußte der kleine Junge wahrscheinlich viel mehr als jeder durchschnittliche Erwachsene.
»Wann kommt Daddy raus?« fragte Enis.
Fiske schaute zu der Frau hoch und blickte dann wieder den kleinen Jungen an. »Das wird noch sehr, sehr lange dauern, Enis. Aber deine Mom wird für dich da sein.«
»Na dann«, sagte Enis ohne merkliche Gefühlsregung. Er nahm die Hand seiner Mom, und sie gingen davon.
Sara beobachtete, wie Fiske den beiden einen Moment hinterherschaute. Wieder konnte sie beinahe fühlen, was er dachte. Der eine Sohn war vielleicht für immer verloren, der andere ließ seinen Vater beiläufig, wie einen streunenden Hund, auf der Straße zurück.
Schließlich hatte Fiske seine Krawatte gelockert und war davongegangen.
Sara wußte nicht genau warum, beschloß aber, ihm zu folgen. Fiske ging langsam, und sie hatte keine Mühe, ihn im Auge zu behalten. Die Bar, die er betrat, war ein kleiner Spalt in der Wand; die Fenster waren dunkel. Sara zögerte kurz; dann ging sie ebenfalls hinein.
Fiske saß am Tresen. Er hatte offensichtlich schon bestellt, denn der Barkeeper schob ihm ein Bier hinüber. Sara ging rasch zu einem Tisch ganz hinten im Raum und setzte sich. Wenngleich die Bar einen schmuddeligen Eindruck machte, war sie ziemlich gut besucht; dabei war es gerade erst fünf.
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