Die Wahrheit
ab, betrat das Haus und klopfte an die Tür zu seiner Wohnung. Niemand öffnete. Sara hatte keinen Schlüssel, also ging sie zur Rückseite des Hauses, stieg die Feuertreppe hinauf und schaute in das Fenster von Michaels kleiner Küche. Nichts. Sie versuchte, die Tür zu öffnen, doch sie war abgeschlossen.
Schließlich fuhr Sara zum Gericht zurück und machte sich zehnmal so große Sorgen wie zuvor. Michael war nicht krank, das wußte sie. Das alles hatte irgend etwas mit den Papieren zu tun, die sie in seinem Aktenkoffer gesehen hatte, da war sie ganz sicher. Sie betete stumm, die ganze Sache möge Michael nicht über den Kopf gewachsen sein. Daß ihm nichts passiert sei und daß er am Montag wieder zur Arbeit kommen würde.
Den Rest des Tages arbeitete Sara; dann ging sie ziemlich spät mit einigen anderen Assessoren zum Abendessen in ein Restaurant in der Nähe der Union Station. Ihre Kollegen wollten Fachsimpeleien führen, doch Sara lag nichts daran. Normalerweise war sie eine hingebungsvolle Anhängerin dieses Rituals, doch jetzt konnte sie sich einfach nicht auf die Gespräche konzentrieren. Irgendwann wäre sie am liebsten schreiend aus dem Lokal gelaufen, so sehr hatte sie die endlosen Strategiespielchen satt, die Vorhersagen, die Auswahl der Fälle, die feinsten Nuancen, die hier zu Tode analysiert wurden: Rauchzeichen von Rauchsüchtigen.
Später an diesem Abend saß sie auf der hinteren Veranda ihres Hauses. Dann ging sie kurz entschlossen zu einer nächtlichen Segeltour auf ihr Boot. Sie blickte zum Himmel, malte sich im Geiste lustige Versionen der verschiedenen Sternbilder aus. Dann dachte sie an Michaels Heiratsantrag und die Gründe, weshalb sie ihn abgelehnt hatte.
Ihre Kollegen wären bestimmt erstaunt, daß Sara diesen Antrag ausgeschlagen hatte. Er ist doch eine hervorragende Partie, würden sie sagen. Ja, sie und Michael hätten ein wundervolles, dynamisches Leben geführt, und sie hätten davon ausgehen können, daß ihre Kinder hochintelligent, ehrgeizig und sportlich begabt sein würden. Sara hatte auf dem College in der Hockeymannschaft gespielt und sogar ein Stipendium dafür bekommen, doch Michael war der bessere Sportler von beiden.
Sara fragte sich, wie die Frau aussah, die Michael heiraten würde. Ob er überhaupt heiraten würde? Vielleicht veranlaßte ihre Ablehnung ihn, für den Rest seines Lebens Junggeselle zu bleiben. Sara konzentrierte sich wieder auf das Segeln und mußte lächeln. Sie nahm sich viel zu wichtig. In einem Jahr würde Michael bei einer berühmten Kanzlei arbeiten und einen phantastischen Job haben. Sie konnte von Glück sagen, wenn er sich in fünf Jahren überhaupt noch an sie erinnerte.
Als Sara wieder anlegte und die Segel einholte, hielt sie für einen Moment inne, um eine letzte Brise von dem Wind zu genießen, der übers Wasser strich. Dann ging sie zum Haus zurück. Eine gemächliche Fahrt von zwanzig Minuten in nördliche Richtung, und sie war in der mächtigsten Stadt auf Erden, bei ihrem Arbeitgeber, in einer Institution, in der sich einige der bedeutendsten Juristen ihrer Zeit versammelt hatten. Und doch wollte sie sich jetzt nur noch unter ihre Bettdecke kuscheln, das Licht ausschalten und so tun, als müsse sie nie wieder dorthin zurück.
Sara war ihr Leben lang ehrgeizig gewesen, verspürte plötzlich aber nicht mehr das geringste Bedürfnis, in ihrem Berufsleben noch irgend etwas Bedeutsames zu erreichen. Es war beinahe so, als hätte sie ihre gesamte Energie verbraucht, nur um bis hierher zu gelangen. Heiraten und Mutter sein? wollte sie das? Sie hatte keine Geschwister und war ein ziemlich verzogenes Einzelkind gewesen. Sie war es nicht gehöhnt, von Kindern umgeben zu sein, doch irgend etwas zog sie in diese Richtung. Ein sehr starkes Gefühl. Sicher war sie sich trotzdem nicht. Aber sollte sie sich mittlerweile nicht endlich darüber im klaren sein?
Als sie ins Haus ging, sich auszog und ins Bett fallen ließ, erkannte sie, daß es eine ganz bestimmte Voraussetzung gab, eine Familie zu gründen: Man mußte jemanden finden, den man liebte. Sie hatte gerade eine Gelegenheit ausgeschlagen - das Angebot eines wirklich außergewöhnlichen Mannes -, genau das zu tun. Würde sie eine zweite Chance bekommen? Wollte sie in diesem Augenblick überhaupt einen Mann in ihrem Leben?
Trotzdem, manchmal bekam man nur eine Chance. Eine einzige im Leben. Das war Saras letzter Gedanke, bevor sie einschlief.
KAPITEL 16
Es war Montag, und John Fiske saß
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