Die Wahrheit
versuchte, seinen Mantel zu holen, doch seine Beine waren wie gelähmt. Er stand einfach nur da.
KAPITEL 17
Rufus Harms öffnete langsam die Augen. Das Zimmer war dunkel, schattig. Doch er war es gewöhnt, auch bei schwachem Licht etwas zu sehen, war im Lauf der Jahre gewissermaßen zu einem Experten darin geworden. Die Zeit im Gefängnis hatte auch sein Gehör dermaßen geschärft, daß er jetzt beinahe die Gedanken anderer hören konnte. Das waren Hauptbeschäftigungen im Gefängnis: lauschen und denken.
Langsam verlagerte Rufus sein Gewicht auf dem Krankenhausbett. Seine Arme und Beine waren noch gefesselt. Er wußte, daß vor der Zimmertür eine Wache stand. Rufus hatte sie schon mehrmals gesehen, wenn jemand sein Zimmer betreten oder verlassen hatte. Der Mann war kein Polizist; er trug Militärkleidung und war bewaffnet. Ein Soldat aus Fort Jackson oder ein Angehöriger der Reservetruppen, Harms wußte es nicht genau.
Er atmete ganz flach ein. Im Verlauf der letzten beiden Tage hatte Harms aufmerksam den Ärzten zugehört, die ihn untersucht hatten. Er hatte keinen Herzinfarkt gehabt, war aber anscheinend nur ganz knapp daran vorbeigeschlittert. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wie die Ärzte es genannt hatten, doch sein Herzschlag war anscheinend so unregelmäßig gewesen, daß er eine Zeitlang auf der Intensivstation bleiben mußte.
Er dachte an seine letzte Stunde im Gefängnis zurück und fragte sich, ob Michael Fiske den Knast noch hatte verlassen können, bevor sie ihn getötet hatten. Es war die reinste Ironie, doch die Herzattacke hatte Rufus das Leben gerettet. Wenigstens war er nicht mehr in Fort Jackson. Für den Augenblick. Doch wenn sein Zustand sich besserte, würden sie ihn zurückschicken. Und dann würde er sterben. Wenn sie ihn nicht schon hier töteten.
In den nächsten zwei Stunden beobachtete er die Leute, die kamen und gingen. Jedesmal, wenn seine Zimmertür sich öffnete, sah er zu der Wache draußen. Ein halbes Kind, das sich in seiner Uniform und mit der Waffe sehr wichtig vorkam. Zwei Wächter waren im Hubschrauber mit ihm hierhergeflogen, aber von denen befand sich jetzt keiner vor der Tür. Vielleicht machten sie Schichtdienst. Wann immer die Tür geöffnet wurde, nickte und lächelte die Wache der Person zu, die den Raum betrat oder verließ, besonders, wenn diese Person jung und weiblich war. Der Wachtposten warf gelegentlich einen Blick in sein Zimmer, und jedesmal sah Rufus zwei Empfindungen in den Augen des Mannes: Haß und Furcht. Das war gut. Das bedeutete, daß er eine Chance hatte. Beide Empfindungen konnten dazu führen, daß dem Posten unterlief, was Rufus dringend brauchte: ein Fehler.
Da man nur einen Posten für ihn abgestellt hatte, überlegte Rufus, ging man wahrscheinlich davon aus, daß er ziemlich außer Gefecht gesetzt war. Aber das war er nicht. Die Monitore mit ihren Zahlen und gezackten Linien sagten ihm nichts; für ihn waren sie Geier in Metallgehäusen, die darauf warteten, daß er schwächer wurde und sie endlich an ihn herankamen. Doch immer noch spürte er, daß seine Kraft zurückkehrte und wuchs. Er schloß und öffnete die Hände in Erwartung des Augenblicks, in dem er vielleicht unbehindert die Arme bewegen konnte.
Zwei Stunden später hörte er, wie die Tür nach innen schwang, und dann flammte das Licht auf. Die Krankenschwester trug ein metallenes Klemmbrett und lächelte ihm zu, als sie den Monitor überprüfte. Sie war Mitte Vierzig, schätzte er. Hübsch, mit einer vollen Figur. Als Rufus ihre breiten Hüften betrachtete, überlegte er, daß sie wohl mehrere Kinder auf die Welt gebracht hatte.
»Heute geht es Ihnen besser«, sagte die Schwester, als sie bemerkte, daß Rufus sie beobachtete.
»Tut mir leid, das zu hören.«
Sie schaute ihn verwundert an, mit offenem Mund. »Glauben Sie mir, viele Leute hier würden Gott weiß was dafür geben, eine solche Prognose zu hören.«
»Wo genau bin ich?«
»In Roanoke, Virginia.«
»Ich war noch nie in Roanoke.«
»Eine schöne Stadt.«
»Nicht so schön wie Sie«, sagte Rufus. Die Worte kamen ihm einfach über die Lippen, und er lächelte verlegen. Seit fast dreißig Jahren war er keiner Frau mehr so nahe gewesen. Die letzte Frau, die er leibhaftig gesehen hatte, war seine Mutter gewesen, wie sie an seiner Seite weinte, während sie ihn davonschleppten, damit er seine lebenslange Haftstrafe antrat. Sie war binnen einer Woche gestorben. Irgend etwas in ihrem Gehirn sei explodiert,
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