Die Wahrheit
hatte sein Bruder ihm erklärt. Doch Rufus wußte, daß seine Mutter an einem gebrochenen Herzen gestorben war.
Rufus kräuselte die Nase, als er den Geruch wahrnahm, der in einem Krankenhaus so fehl am Platze wirkte. Zuerst begriff Rufus nicht, daß er bloß den Duft der Krankenschwester roch, eine Mischung aus einem leichten Parfüm, Feuchtigkeitscreme und Frau. Verdammt. Was sonst noch hatte er vom wirklichen Leben vergessen? Bei diesem Gedanken bildete sich im Winkel seines rechten Auges eine Träne.
Die Schwester schaute zu ihm hinunter, die Stirn gerunzelt, eine Hand auf die Hüfte gelegt. »Man hat mir gesagt, ich solle in Ihrer Nähe vorsichtig sein.«
Er schaute sie an. »Ich würde Ihnen nie etwas tun, Ma’am.« Sein Tonfall war ernst und aufrichtig. Die Schwester sah die Träne in Rufus’ Augenwinkel und wußte beim besten Willen nicht, was sie erwidern sollte.
»Können Sie nicht in dieses Diagramm eintragen, daß ich sterbe oder so?«
»Sind Sie verrückt? Das kann ich wirklich nicht. Wollen Sie denn nicht, daß es Ihnen besser geht?«
»Sobald es mir besser geht, bringt man mich sofort wieder nach Fort Jackson zurück.«
»Kein angenehmer Ort, könnte ich mir vorstellen.«
»Ich sitze jetzt seit über zwanzig Jahren in derselben Zelle. Es tut sehr gut, zur Abwechslung mal etwas anderes zu sehen. In so einer Zelle gibt es nicht gerade viel zu tun. Man zählt hauptsächlich seine Herzschläge und starrt den Beton an.«
Sie schaute überrascht drein. »Zwanzig Jahre? Wie alt sind Sie denn?«
Rufus dachte kurz nach. »Um Ihnen die Wahrheit zu sagen, ich weiß es nicht genau. Jedenfalls bin ich noch keine Fünfzig.«
»Jetzt hören Sie aber auf. Sie wissen nicht, wie alt Sie sind?«
Er blickte sie unverwandt an. »Die einzigen Knackis, die einen Kalender führen, sind die, die eines Tages wieder rauskommen. Ich sitze eine lebenslange Strafe ab, Ma’am. Werde nie wieder rauskommen. Was spielt es da für eine Rolle, wie alt ich bin?« Er sagte es so nüchtern und sachlich, daß die Schwester unwillkürlich errötete.
»Oh.« Ihre Stimme zitterte. »Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen.«
Er verlagerte leicht sein Gewicht. Die Ketten schlugen gegen die Metallseiten des Bettes. Die Schwester wich zurück.
»Können Sie jemanden für mich anrufen, Ma’am?«
»Wen? Ihre Frau?«
»Ich habe keine Frau. Meinen Bruder. Er weiß nicht, wo ich bin. Ich möchte es ihm mitteilen.«
»Da muß ich zuerst mal die Wache fragen.«
Rufus sah an ihr vorbei. »Den kleinen weißen Jungen da draußen? Was hat der mit meinem Bruder zu tun? Der sieht doch so aus, als könnte er nicht mal allein pinkeln.«
Sie lachte. »Tja, er muß wirklich einen großen, alten Mann bewachen, was?«
»Mein Bruder heißt Joshua. Joshua Harms. Alle nennen ihn Josh. Wenn Sie einen Kugelschreiber holen, gebe ich Ihnen seine Telefonnummer. Rufen Sie ihn einfach an und sagen Sie ihm, wo ich bin. Hier drinnen ist es ziemlich einsam. Er wohnt gar nicht mal so weit weg. Wer weiß, vielleicht kommt er mich sogar besuchen.«
»Hier drinnen ist es wirklich ziemlich einsam«, sagte die Schwester ein bißchen wehmütig. Sie schaute zu Rufus hinunter, betrachtete seinen großen, starken Körper, der völlig mit Schläuchen und Pflastern bedeckt war. Und die Ketten erregten besonders ihre Aufmerksamkeit.
Rufus bemerkte, daß die Schwester wie gebannt auf die Ketten starrte. Ketten an einem Menschen hatten normalerweise immer diese Wirkung; das hatte Rufus herausgefunden.
»Was haben Sie eigentlich getan? Weshalb sitzen Sie im Gefängnis?«
»Wie heißen Sie?«
»Wieso ...?«
»Ich möchte es nur gern wissen. Ich heiße Rufus. Rufus Harms.«
»Das weiß ich. Es steht auf Ihrem Diagramm.«
»Tja, ich habe kein Diagramm, auf dem Ihr Name steht.«
Sie zögerte kurz, schaute zur Tür und dann wieder zu ihm. »Ich heiße Cassandra«, sagte sie.
»Ein wirklich schöner Name.« Sein Blick glitt über ihre Figur. »Er paßt zu Ihnen.«
»Danke. Wollen Sie mir nicht sagen, was Sie getan haben?«
»Warum wollen Sie das wissen?«
»Ich bin bloß neugierig.«
»Ich habe jemanden getötet. Vor langer Zeit.«
»Warum haben Sie es getan? Hat er versucht, Sie zu verletzen?«
»Man hat mir gar nichts getan.«
»Warum haben Sie ihn dann getötet?«
»Ich wußte nicht, was ich tat. Ich war nicht bei Verstand.« »Wirklich?« Sie trat einen weiteren Schritt zurück. »Sagen das nicht alle?«
»Bei mir ist es zufällig die Wahrheit. Rufen
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