Die Wahrheit
nicht weinen. Auf der Fahrt hierher hatte er sich dabei ertappt, daß er Nummernschilder von Autos zählte, die aus einem anderen Bundesstaat stammten, ein Spiel, das die beiden Brüder als Kinder oft gespielt hatten. Ein Spiel, das Mike Fiske normalerweise gewonnen hatte.
John hob die Seite des Lakens an und ergriff eine Hand seines Bruders. Sie war kalt, aber die Finger waren noch geschmeidig. John drückte sie sanft, schaute auf den Betonboden und schloß die Augen. Als er sie ein paar Minuten später wieder öffnete, hatten sich auf dem Betonboden nur zwei Tränen gesammelt. Rasch hob er den Blick und atmete tief aus. Es fühlte sich trotzdem gezwungen an, und er kam sich plötzlich unwürdig vor, hier zu sein.
Als Cop hatte er mit den Eltern zu vieler Kinder zusammengesessen, die sich betrunken ans Steuer gesetzt und sich mit dem Wagen um einen Baum oder Telefonmast gewickelt hatten. John hatte versucht, die Eltern zu trösten, hatte ihnen sein Mitgefühl ausgesprochen, hatte sie sogar umarmt. Er hatte wirklich geglaubt, sich der Tiefe ihrer Verzweiflung genähert, ja, sie sogar berührt zu haben. Er hatte sich oft gefragt, was er fühlen würde, wenn ihm selbst so etwas zustieße. Jetzt wußte er, daß er diese Verzweiflung nicht empfand.
Er zwang sich, an seine Eltern zu denken. Wie sollte er seinem Vater beibringen, daß sein Goldjunge tot war? Und seiner Mutter? Wenigstens darauf gab es eine einfache Antwort: Er sollte und würde es ihr nicht sagen.
Fiske war katholisch erzogen worden, aber kein religiöser Mensch. Er beschloß, nicht mit Gott, sondern mit seinem Bruder zu sprechen. Er drückte Michaels Hand an seine Brust und sprach mit ihm über Dinge, die ihm leid taten, und darüber, wie sehr er ihn geliebt hatte, wie sehr er sich wünschte, er wäre nicht tot, für den Fall, daß der Geist seines Bruders noch zurückgeblieben war, im Raum hing, auf diese Mitteilung wartete, auf diesen stillen Ausbruch von Schuld und Reue des älteren Bruders. Dann verstummte Fiske und schloß wieder die Augen. Er konnte jeden kräftigen Schlag seines Herzens spüren, ein Geräusch, das ein wenig von der Ruhe des Körpers neben ihm in den Hintergrund gedrängt wurde.
Der Angestellte steckte den Kopf zur Tür hinein. »Mr. Fiske, wir müssen Ihren Bruder nach unten bringen. Sie waren jetzt eine halbe Stunde bei ihm.«
Fiske erhob sich und ging wortlos an dem Mann vorbei. Die Leiche seines Bruders würde nun an einen furchtbaren Ort gebracht werden, wo Fremde auf der Suche nach Hinweisen, wer Mike getötet hatte, seine sterblichen Überreste zerschneiden und zersägen würden. Als sie die Bahre davonrollten, trat Fiske wieder ins Sonnenlicht hinaus und ließ seinen kleinen Bruder zurück.
KAPITEL 20
»Bist du sicher, daß du deine Spuren verwischt hast?«
Rayfield nickte in den Hörer. »Jede Aufzeichnung von seinem Besuch wurde gelöscht. Ich habe bereits das gesamte Personal, das Fiske gesehen hat, zu anderen Anstalten versetzt. Selbst wenn jemand dahinterkommt, daß er bei uns war, wird niemand mehr hier sein und etwas verraten können.«
»Und niemand hat gesehen, wie du die Leiche beseitigt hast?«
»Vic hat seinen Wagen gefahren. Ich bin ihm gefolgt. Wir haben eine gute Stelle ausgesucht. Die Polizei wird es für einen Raubmord halten. Niemand hat uns gesehen. Und selbst wenn, in so einem Viertel ist man der Polizei gegenüber nicht besonders mitteilsam.«
»Ihr habt nichts im Wagen gelassen?«
»Wir haben sein Portemonnaie mitgehen lassen, um den Eindruck zu verstärken, daß es Raubüberfall gewesen ist. Seine Brieftasche haben wir ebenfalls mitgehen lassen. Und eine Straßenkarte. Sonst lag nichts im Wagen. Und natürlich haben wir den Kühler wieder aufgefüllt.«
»Und Harms?«
»Der ist noch im Krankenhaus. Sieht so aus, als würde er es schaffen.«
»Verdammt. Das ist wieder mal typisch für unser Glück.«
»Reg dich nicht auf. Wenn er zurückkommt, kümmern wir uns um ihn. Schwaches Herz und so weiter, da kann einem schnell etwas zustoßen.«
»Warte nicht zu lange. Im Krankenhaus kommst du nicht an ihn ran?«
»Zu gefährlich. Zu viele Leute in der Nähe.«
»Und du läßt ihn bewachen?«
»Er ist ans Bett gekettet, und rund um die Uhr steht eine Wache vor der Tür. Morgen früh wird er entlassen. Morgen abend wird er tot sein. Vic arbeitet bereits an den Einzelheiten.«
»Und niemand könnte ihm helfen? Bist du ganz sicher?«
Rayfield lachte. »Verdammt, kein Aas weiß, daß er im
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