Die Wahrheit
Fälle auf einen Kuhhandel hin. Käme wirklich jemand zu mir und würde behaupten, er wäre unschuldig, würde ich vermutlich einem Herzinfarkt erliegen. Ich verteidige nicht, ich treibe einen Handel mit Urteilen. Mein Job besteht darin, dafür zu sorgen, daß mein Mandant höchstens so lange in den Knast wandert wie andere, die das gleiche oder ähnliches verbrochen haben. Das ist auch eine Art von Gerechtigkeit, nicht wahr? Und wenn ich es mal auf eine Verhandlung ankommen lasse, was selten genug der Fall ist, besteht der Trick darin, so viel Staub aufzuwirbeln, daß die Geschworenen die Lust und Kraft verlieren, der Sache wirklich auf den Grund zu gehen, und aufgeben. Die wollen doch gar nicht herumsitzen und über das Schicksal eines Menschen sprechen, den sie überhaupt nicht kennen und der ihnen scheißegal ist.«
»Mein Gott, was ist nur aus der Wahrheit geworden?«
»Manchmal ist die Wahrheit der größte Feind des Anwalts. Man kann sie nicht verdrehen. In neun von zehn Fällen verliere ich mit der Wahrheit meine Prozesse. Man bezahlt mich nicht dafür, einen Prozeß zu verlieren, aber ich versuche, fair zu sein. Also spielen wir alle tagsüber unser kleines Schmierentheater, hängen des Nachts die Netze aus und fangen uns einen möglichst dicken Brocken, und am nächsten Tag findet die nächste Komödie statt. Und so geht es immer weiter.«
»Ist das für Sie das wirkliche Leben?« fragte Sara.
»Keine Angst, Sie werden das wirkliche Leben niemals kennenlernen. Sie werden an der Harvard-Universität lehren oder in irgendeiner New Yorker Kanzlei mit vergoldeten Schildern an den Türen arbeiten. Sollte ich je dorthin kommen, winke ich Ihnen von der Müllkippe aus zu.«
»Würden Sie bitte aufhören?« rief Sara.
Schweigend fuhren sie weiter, bis Fiske eine Frage in den Sinn kam. »Warum haben Sie so getan, als würden Sie mich nicht kennen, als Perkins uns im Gericht miteinander bekannt machte? Schließlich haben Sie mich schon mal bei einem Prozeß beobachtet.«
Sara atmete kurz ein. »Keine Ahnung. Wahrscheinlich, weil mir nichts einfiel, wie ich Ihnen in Perkins’ Beisein geschickt beibringen konnte, daß ich Sie schon mal gesehen habe.«
»Wieso >geschickt Sie hätten es mir einfach sagen können.«
»Sie wissen doch, was man über den ersten Eindruck sagt.« Kaum war Sara diese Bemerkung über die Lippen gekommen, schüttelte sie den Kopf. Gott im Himmel!
Während Fiske sie beobachtete, fiel der letzte Rest seiner Feindseligkeit von ihm ab. »Lassen Sie sich nicht von einem zynischen Arsch wie mir Ihre Begeisterung nehmen, Sara. Niemand hat das Recht dazu«, fügte er leise hinzu. »Es tut mir leid.«
Sara schaute zu ihm hinüber. »Ich glaube, Ihnen liegt mehr an den Menschen, als Sie zugeben.« Sie zögerte kurz, überlegte, ob sie es ihm sagen sollte oder nicht. »Sie kennen einen kleinen Jungen namens Enis, nicht wahr?«
Fiske blickte sie an.
»Ich habe gesehen, wie Sie mit ihm gesprochen haben.«
Endlich fiel es Fiske ein. »Die Bar! Ich wußte doch, daß ich Sie schon mal gesehen habe. Sind Sie mir etwa gefolgt?«
»Ja.«
Saras Offenheit überrumpelte Fiske. »Warum?« fragte er ruhig.
»Das ist nicht leicht zu erklären«, sagte sie zögernd. »Ich bin noch nicht dazu bereit, mit Ihnen darüber zu sprechen. Ich habe Ihnen nicht nachspioniert. Ich sah, wie schwer es Ihnen fiel, mit Enis und seiner Familie zu sprechen.«
»Etwas Besseres konnte ihnen gar nicht passieren. Beim nächstenmal hätte der Alte vielleicht sie umgebracht.«
»Aber trotzdem . auf diese Weise den Vater zu verlieren .«
»Er war nicht Enis’ Vater.«
Sara blickte ihn verdutzt an. »Er war gar nicht der Vater?«
»Sicher, Enis ist sein Sohn. Aber das macht den Kerl nicht zum Vater. Väter tun nicht, was dieser Mann seiner Familie angetan hat.«
»Was wird aus ihnen werden?«
Fiske zuckte die Achseln. »Ich gebe Lucas noch zwei Jahre, bis sie ihn mit einem Dutzend Löchern in der Brust in irgendeiner Gasse finden. Das wirklich Traurige daran ist, er selbst weiß das auch.« »Vielleicht wird er Ihnen eine angenehme Überraschung bereiten.«
»Ja. Vielleicht.«
»Und Enis?«
»Ich weiß nichts von Enis. Und ich möchte nicht mehr darüber sprechen.«
Sie fuhren schweigend weiter, bis sie das Gebäude der Mordkommission erreicht hatten. »Mein Wagen steht direkt vor dem Haupteingang.«
Sara blickte ihn erstaunt an. »Sie Glückspilz. Ich wohne seit zwei Jahren in dieser Stadt und habe noch nie einen
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