Die Wahrheit
tun?«
»Michael hatte so gut wie kein Privatleben.«
»Abgesehen von Ihnen?«
Sie blickte ihn scharf an, sagte aber nichts.
»Standen irgendwelche großen, kontroversen Fälle an?« fragte er.
»Jeder Fall ist groß und kontrovers.«
»Aber Mike hat sich Ihnen gegenüber nie genauer geäußert?«
Sara blickte nach vorn, antwortete auch diesmal nicht.
»Alles, was Sie mir sagen, könnte mir helfen, Sara.«
Sie trat behutsam auf die Bremse. »Ihr Bruder war manchmal ziemlich seltsam. Haben Sie gewußt, daß er regelmäßig in aller Herrgottsfrühe zur Poststelle ging, um sich so schnell wie möglich über interessante Fälle, Berufungsanträge und dergleichen zu informieren?«
»Das überrascht mich nicht. Mike hat nie halbe Sachen gemacht. Wie verfährt man normalerweise mit diesen Anträgen?«
»Sie werden in der Poststelle geöffnet und dort zunächst einmal gesichtet. Unsere Analytiker nehmen sich sämtliche Akten vor, um sicherzustellen, daß sie den formellen und inhaltlichen Anforderungen des Gerichts entsprechen. Falls es sich um handschriftliche Eingaben handelt - und das ist bei zahlreichen Anträgen in forma pauperis der Fall -, achten sie sogar darauf, ob die Handschrift lesbar ist. Dann wird die Akte unter dem Nachnamen des Antragstellers in einer Datenbank gespeichert. Zum Schluß wird die Akte kopiert, und jeder Richter bekommt ein Exemplar.«
»Mike hat mir mal gesagt, daß bei Ihnen eine Flut von Berufungen eingeht. Die Richter können doch unmöglich alle diese Akten lesen.«
»Tun sie auch nicht. Die Petitionen werden unter den Richtern aufgeteilt, und die Assessoren schauen sie durch, ob Aktenanforderungsanträge gestellt werden sollten, und schreiben entsprechende Empfehlungen. Nehmen wir mal an, wir bekommen pro Woche einhundert Anträge. Es gibt neun Richter, also bekommt jede Kammer eines Richters ungefähr ein Dutzend. Von dem Dutzend, das an Richterin Knights Kammer geht, schreibe ich zu dreien dieser Anträge ein kurzes Gutachten. Die Gutachten gehen dann an sämtliche Kammern. Dort schauen die anderen Assessoren sie sich an und schreiben Empfehlungen, ob ihr Richter die Anträge annehmen sollte oder nicht.«
»Dann haben die Assessoren eine ziemliche Macht.«
»In mancher Hinsicht, ja. Aber bei den Beurteilungen eigentlich nicht. Das Gutachten eines Assessors besteht hauptsächlich aus einer Zusammenfassung der Fakten des jeweiligen Falles und einer Verknüpfung mit anderen Präzedenzfällen. Die Richter setzen die Assessoren praktisch nur für den Papierkram ein, die Vorlagen. Die größte Bedeutung kommt uns bei der Sichtung der Fälle zu.«
Fiske schaute nachdenklich drein. »Also kann es geschehen, daß ein Richter nicht mal die Originaldokumente zu sehen bekommt, die eingereicht wurden, bevor er entscheidet, ob ein Fall angenommen wird oder nicht? Er liest bloß das Gutachten über die Petition und die Empfehlung des Assessors.«
»Vielleicht nicht einmal das gesamte Gutachten, sondern nur die Empfehlung. Normalerweise finden zweimal wöchentlich Konferenzen statt, bei denen die Richter die Neueingänge diskutieren. Dabei wird über sämtliche Petitionen abgestimmt, die von den Assessoren gesichtet wurden. Bei mindestens vier JaStimmen, dem erforderlichen Minimum, wird der Fall angenommen.«
»Die erste Person, die einen Antrag an den Obersten Gerichtshof zu Gesicht bekommt, ist also jemand aus der Poststelle?«
»Normalerweise ja.«
»Was meinen Sie mit >normalerweise« »Nun ja, es gibt keine Garantie dafür, daß alles stets nach Vorschrift abläuft.«
Fiske dachte kurz darüber nach. »Wollen Sie damit andeuten, daß mein Bruder einen Antrag an sich genommen hat, bevor er in der Poststelle ordnungsgemäß bearbeitet wurde?«
Sara stieß ein ersticktes Seufzen aus, riß sich aber schnell zusammen. »Das kann ich Ihnen nur sagen, wenn Sie mir Vertraulichkeit zusichern, John.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich werde Ihnen nichts versprechen, was ich nicht halten kann.«
Sara seufzte erneut, erzählte Fiske dann aber mit kurzen, knappen Worten von den Papieren, die sie im Aktenkoffer seines Bruders entdeckt hatte. »Ich wollte wirklich nicht herumschnüffeln. Aber Mike hatte sich so seltsam benommen, und ich hab’ mir Sorgen um ihn gemacht. Eines Morgens bin ich ihm begegnet, als er gerade von der Poststelle kam. Er sah ... verstört aus. Ich vermute, daß er gerade den Antrag entdeckt und eingesteckt hatte, den ich später in seinem Aktenkoffer
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