Die Wand der Zeit
Namens, furchterregend und im Kampf stets siegreich. Als er starb, schnitten seine Landsleute ihm den Kopf ab, steckten ihn auf einen Spieß und stellten ihn mit dem Gesicht zum Meer auf. Damit schufen sie einen Schutzzauber, der das Land vor dem Eindringen fremder Heere schützte.
Mythen entstehen aus Erinnerungen, und Erinnerungen sind fehlbar, doch diese beiden waren Grundpfeiler von Bran. Wir hatten keine Religion und wenig Raum für Gefühlsduselei, doch aus diesen auch heute noch manchmal erzählten Geschichten geht hervor, was für ein Volk wir sind; der Stellenwert von Pflicht und Respekt zeigt sich darin ebenso wie unser Stolz und unsere Entschlossenheit, uns niemals unterwerfen zu lassen.
Für mich steckt aber noch etwas mehr darin. Ich bin mir einiger Parallelen bewusst. Die Mythen erzählen von Ablehnung und Verehrung, davon, wie leicht etwas in sein Gegenteil umschlagen kann. Zwei Gesichter schauen aufs Meer. Das eine übt Rache, das andere beschützt.
Dass Andalus hier ist, bedeutet vielleicht, dass ich noch einmal zum Schutz verpflichtet bin. Es könnte bedeuten, dass ich die Insel verlassen muss.
Als ich zur Höhle zurückkomme, ist das Feuer aus. Andalus liegt mit dem Rücken zu mir auf dem Bett. Er dreht sich erst um, als ich ihm später etwas zu essen reiche. Ich nenne ihn wieder General. Ich frage ihn nach Axum. Aber er sieht mich nicht mal an.
Im ersten Tageslicht wache ich auf, blicke zu Andalus hinüber und sehe, dass er verschwunden ist. Ich springe auf.
Draußen weht ein warmer Wind, und die Wolkendecke ist dünn. Ich sehe ihn nicht. Ich steige auf den Höhlenfelsen hinauf, damit ich das Grasland besser überblicken kann. Aber er istnirgends zu sehen. Weit kann er noch nicht sein – in seiner Verfassung höchstens eine Meile. Von der Höhle aus sieht man die Felsen nicht, an denen ich angle, und ich nehme an, dort ist er hin. Ich gehe den Steiluferweg entlang.
Langsam nähere ich mich der Kliffkante und schaue hinunter. Er sitzt mit dem Rücken zu mir, das Gesicht dem Meer zugewandt. Er angelt nicht, er sitzt nur da. Ich beobachte ihn eine Weile. Sein Kopf dreht sich langsam zur Seite. Irgendwie dreht er sich unnatürlich weit. Ich ducke mich und vermeide plötzliche Bewegungen. Ich glaube zwar nicht, dass er mich sehen kann, aber sein Kopf bleibt zur Seite gedreht. Vielleicht schaut er auf etwas anderes, das weiter hinten am Kliff ist, hinter mir. Ich sehe mich um. Ich drücke mich flach ins Gras und wälze mich auf den Rücken. Über mir kreist eine Möwe.
Tora wollte von den Kämpfen nichts hören. Sie wusste, was los war – das wusste jeder –, aber vom Soldatenleben, von dem, was ich gesehen hatte, wollte sie nichts hören. Weder vom Töten noch von den verschütteten Relikten eines vergessenen Zeitalters. Ich hätte es ihr gern erzählt, aber dann wandte sie sich jedes Mal von mir ab. Lagen wir im Bett, drehte sie sich weg und legte sich mit dem Rücken zu mir auf die Seite. Dann unterbrach ich mich, wandte mich zu ihr und streichelte ihr den Oberschenkel. Ich hielt ihr nicht vor, dass sie nichts davon hören wollte, und ließ das Thema schließlich ganz. Ich glaube, sie brauchte Abstand davon. Einen zartfühlenderen Menschen hatte ich nie gekannt, und ich dachte immer, es müsse ihr zuwider sein, ihr Bett mit jemandem zu teilen, der getötet hatte. Sie nahm mir mein Vorleben nicht übel und machte mir keinen Vorwurf daraus, aber ich wusste, dass sie es nicht guthieß. Vielleicht brachte sie meine Versuche, ihr von vergangenen Weltenzu erzählen, mit Töten oder zumindest mit Sterben in Verbindung.
Warum ließ sie sich dann aber mit jemandem ein, dessen Amt so etwas mit sich brachte? Es war mir ein Rätsel. Vieles an ihr war mir rätselhaft. Vielleicht sah sie, obwohl sie nicht damit einverstanden war, die Notwendigkeit des Großen Plans ein. Wirklich gut finden konnte es niemand, der seine Sinne beisammen hatte, aber wir wussten alle, dass es nötig war. Auch über diesen Teil meines Lebens haben wir selten geredet. Trotzdem gab sie mir Kraft; ich konnte auf sie zählen, ihre Gefühle und Reaktionen voraussehen und mich darauf verlassen. Wahrscheinlich fand sie, wenn jemand das alles tun musste, dann am besten ich, ein Mensch, der den Idealen der Gerechtigkeit und der Pflicht huldigte.
Sie hätte sich schwergetan, einen Mann zu finden, der kein Blut an den Händen hatte. Wir alle hatten getötet, wir mussten es tun. Sie gehörte zu jener vergessenen Welt, von der sie
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