Die Wand der Zeit
Rückkehr erklären kann. Ich mache mir nichts vor. Wenn ich zurückkehre, bedeutet das sehr wahrscheinlich meine Hinrichtung, zumindest aber Gefangenschaft mit anschließender neuerlicher Verbannung. Dass ich meine Pflicht tue und diesen Mann ausliefere, wird kaum ins Gewicht fallen. Überhöhte Erwartungen hege ich also nicht, aber vielleicht bleibt mir doch Zeit, das eine oder andere zu erledigen – Tora und Abel noch einmal zu sehen, meine Vorräte aufzustocken. Ich kann den Behörden eine Abschrift meiner zehnjährigen Bestandsaufnahme hinterlassen, als zumindest kleinen Beitrag zur Vermehrung des Allgemeinwissens. Dafür sollten sie dankbar sein. Wenn ich dann wieder herkomme, werde ich mit frischem Schwung an die Arbeit gehen. Ich werde meinen Frieden gemacht haben, und wenn ich Andalus dalasse, bin ich die Variablen wieder los. Der Mensch ist am glücklichsten, wenn nichts infrage steht.
Zehn Jahre. Es könnte ein Menschenleben sein, es könnte allzu kurz sein. Zehn Jahre. Weniger lange, als Bran im Kriegwar, weniger lange, als ich Tora kannte, als ich Marschall war, als der Große Plan benötigte, um alle Phasen zu durchlaufen. Länger als wir brauchten, um den Krieg zu beenden, das Töten, die Verschwendung einzuschränken. Länger als mein Prozess, als die Fahrt hierher, als ich brauchte, um Abschied zu nehmen.
Wie viele Menschen sind in diesen zehn Jahren gestorben? Der Richter, der mich fortgeschickt hat? Meine Helfer? Abel? Vielleicht sogar, und der Gedanke lässt mich schaudern, Tora. Wenn sie nicht tot ist, könnte meine Rückkehr grausam sein. Vielleicht erwacht sie eines Morgens von einem Klopfen an der Tür. Ich bin es, mit wirren Haaren und erschöpft nach tagelanger Meerfahrt. Ich komme geradewegs vom Floß. »Tora«, sage ich, obwohl es eher ein Krächzen ist als ein Wort. Ihre zunächst ausdruckslosen, verschlafenen Augen blitzen auf, als sie mich plötzlich erkennt. Und dann? Ein Lächeln? Tränen? Wirft sie sich mir in die Arme oder weicht sie zurück? Erscheint ein Mann auf der Treppe, ein kleines Mädchen im Flur? Einfach alles ist möglich. Vielleicht sind, wenn ich zu ihr komme, die Fenster mit Brettern vernagelt, und die Nachbarn in ihren verriegelten Häusern beobachten mich durch zugezogene Vorhänge.
Er hat sich nicht gerührt. Er atmet flach und schnell. Schläft und träumt, nehme ich an. Ich sehe zu, wie sein Wanst sich hebt und senkt. Ich rechne nach, wie lange er schon hier ist. In drei Tagen sind es zwei Wochen. Er hat anscheinend kein Gewicht verloren. Vielleicht dauert das länger. Ich denke an meine eigene Ankunft zurück, aber das ist schon zu lange her.
Ich frage mich, wie er so geworden ist. Gab es eine Rationierungspyramide in Axum? Essenszuteilung nach Rang? Dashätten wir in Bran nie zugelassen. Der Große Plan sollte ohne Rücksicht auf die gesellschaftliche Stellung der Einzelnen durchgeführt werden. Wer etwas beitrug, war außer Gefahr. Aber ich mutmaße nur. Sein Schweigen durchdringe ich nicht.
Ich habe Menschen kennengelernt, die durch die Schrecken des Krieges der Sprache beraubt wurden. Manche sind verstummt, andere können nicht aufhören zu reden. Früher oder später finden die meisten wieder zu sich. Die Zeit heilt alle möglichen Wunden.
Ich werde ein paar Wochen brauchen, um die Reise vorzubereiten. Ich muss möglichst viel Fisch räuchern und Körner und Knollen sammeln. Wir könnten zwar unterwegs angeln, aber vor zehn Jahren waren weite Teile des Meers unbelebt (mit meiner Insel habe ich Glück), und es könnte sein, dass wir tagelang nichts fangen. Ich muss auch ein größeres Floß bauen. Schließlich sind wir jetzt zu zweit. Ich kann einen neuen Mast machen und ein paar Ruder. Wenn ich zwischendurch rudere, verkürzt sich die Reisezeit. Drei Wochen muss ich trotzdem rechnen. Auch mit Kompass kann man den einen oder anderen Tag vom Kurs abkommen. Außerdem wird das neue Floß schwerer und liegt tiefer im Wasser, da helfen auch Rudern und ein besseres Segel nichts. Wir brauchen fünfzig Liter Wasser. Es regnet zwar ständig, aber auf einem schwankenden Floß will ich kein Regenwasser sammeln. Fünfzehn größere Fische, für jeden Tag eine Handvoll Körner und eine Knolle, das sollte genügen, damit ich mir unterwegs keine Sorgen um die Verpflegung machen muss. Mich wird genug anderes beschäftigen.
Ich setze Wasser auf und schütte zerstoßene Samen und Körner hinein, um Schleimsuppe zu kochen, die ich zu der noch übrigenKrabbenschere esse.
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