Die Wand der Zeit
Monate vor Prozessbeginn verurteilt. Ich wusste, dass ich den Gerichtssaal nicht als freier Mann verlassen würde. Die Zahl der Gegner des Großen Plans war zu schnell gewachsen. Unmut herrschte. Ich bat darum, Gesandte zu unseren Widersachern zu schicken, um zu erfahren, wie es ihnen mit dem Großen Plan ergangen war, doch das wurde abgelehnt. Vielleicht witterten sie Verrat. Ich hätte meine Ankläger gern gefragt, wie sie mich anklagen konnten, nachdem es mir doch nur mit ihrer Unterstützung möglich gewesen war, meine Pflicht zu erfüllen. Gern hätte ich mit dem Finger auf sie gezeigt und gesagt: »Ihr! Auch ihr sitzt auf der Anklagebank.« Ich wollte sie beschämen, sie auf ihre Mitschuld stoßen, nach ihrer Hand greifen und sagen: »Da! Auch ihr habt Blut an den Händen.« Aber ich neige nicht zur Melodramatik, und meiner Sache hätte das nicht gedient. Mir ist klar, dass ich zum Wohl der Allgemeinheit geopfert worden bin. Unter dem Gejohle der Massen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Aber so ging es da nicht zu. Es geschah alles viel leiser. Tora saß in derEcke und hatte kaum einen Blick für mich, unterstützte mich aber, indem sie jeden Tag zur Verhandlung kam und bis zum Ende dablieb. Einige andere kamen auch, aber nicht viele. Und die meisten zeigten Respekt. Einer jedoch musste aus dem Saal gezerrt werden. Gegen Ende des Prozesses erschien er regelmäßig und setzte sich so, dass ich ihn sehen konnte. Ich merkte, dass er mich anstarrte. Eines Tages stand er mitten in der Verhandlung auf und schrie auf mich ein. Er benutzte Ausdrücke, die ich in den Ämtern oder bei meinen Bekannten nie geduldet hätte. Bedauerlich. Offenbar hatte er mehrere Angehörige verloren. Während dieses Zwischenfalls sah Tora mich an. Ich meinte Tränen in ihren Augen zu sehen. Aber ich war mir nicht sicher. Wachen standen vor mir, während ihre Kollegen den schreienden und um sich schlagenden Protestierer hinausschleiften. Meine Blicke galten Tora, nicht ihm, durch den Vorhang aus stämmigen Männern wollte ich sehen, was mit ihr war.
Der Tag ist schnell vergangen. Es war ein guter Tag für mich. Ich habe schwer gearbeitet und viel geschafft. Ein befriedigendes Gefühl. In der Dämmerung mache ich Feierabend. Als ich mich umdrehe, um zu gehen, sehe ich Andalus. Er steht etwa zehn Meter hinter mir. Steht nur da und sieht mich an. Ich weiß nicht, seit wann. »Was soll das?«, frage ich ihn. »Wie lange sind Sie schon da? Was wollen Sie?« Er hat mich erschreckt. Ich erwarte keine Antwort und bekomme auch keine. Ich gehe auf ihn zu, und er dreht sich zur Seite, als wollte er mir an einer Tür den Vortritt lassen. Ich erinnere mich, diese Geste vor Jahren bei ihm gesehen zu haben. Er war immer höflich, das musste man ihm lassen. Diesmal jedoch schaudert es mich unwillkürlich, als ich an ihm vorbeigehe.
Ich höre ihn hinter mir auf dem Rückweg zur Höhle. Es istein stiller Tag. Zwischen den Schmatzgeräuschen meiner Schritte höre ich die seinen. Nur dass die lauter schmatzen. Wenn ich stehenbleibe, bleibt er prompt auch stehen. Wie mein Schatten.
Später nimmt er ohne sonderliche Hast oder Gier sein Essen zu sich. Ich bin vor ihm fertig und lege mich hin. Vor Müdigkeit schlafe ich fast sofort ein.
Der nächste Tag dient der Nahrungsbeschaffung. Ich gehe an den Strand und angle mehrere Stunden lang. Am Nachmittag ernte ich Grassamen.
Das ist ein guter Rhythmus, ein Tag harte Arbeit, ein Tag Nahrungssuche und Torfstechen, und eine ganze Woche bleibe ich dabei, bis ich mit dem Floß beinah fertig bin und die Hälfte der Verpflegung, die wir brauchen, beisammenhabe. Das Floß liegt etwas unterhalb der Flutmarke. Ich habe die Planken extra vom Wald dorthin geschafft. Das war zwar mühselig, aber wesentlich einfacher, als das fertige Floß vom Wald zum Meer zu bringen. Beim Angeln sehe ich es aus dem Augenwinkel, an den Felsen vertäut. Als Flut war, habe ich geprüft, wie es die Balance hält und wie tief es im Wasser liegt. Beim Anblick des Floßes schlägt mein Herz ein wenig schneller. Mit jedem Tag kommt die ersehnte Rückkehr in mein Land näher. Manchmal frage ich mich, wieso ich nicht schon eher die Heimkehr gewagt habe, aber im Innersten weiß ich, dass es unmöglich war.
Das Floß braucht einen Mast. Ich bin entschlossen, einen zu bauen. Nicht nur, weil damit eine schnellere Fahrt möglich wird, sondern auch aus Stolz. Man soll sehen, dass ich gut gelebt habe, dass die Verbannung meine Erfindungsgabe und meinen
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