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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Bruce
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manchmal der Glaube abhanden. Das habe ich nie jemandem erzählt. Aber es war zu spät. Zu spät verlor ich den Glauben. Zu spät, um die Gesichter abzustellen, die mir im Dunkeln erschienen, das Geschrei der Kinder in der Inselnacht.
    Ich habe nicht viel erreicht seit meiner Rückkehr. Ich habe mein Anliegen nicht vorgebracht, ich habe weder Tora noch Abel gefunden. Ich brauche eine Reaktion, um weiterzusehen. Irgendwo in dieser Stadt, in einem der Gebäude vor mir, liegt die Antwort, liegt meine Zukunft. Irgendwo in der Stadt, so sie leben, oder gleich außerhalb der Mauer, falls sie tot sind, liegen ihre Körper, meine Prüfsteine. Ob sie atmen oder nicht, atmen oder verwesen, ich stelle mir vor, wie ihre Dünste im warmen Wind herüberwehen, mir in die Nase steigen. Ich könnte ihnen nachspüren wie ein Hund seiner Beute. So nah sind sie.
    Aber nicht nah genug. Nach langer Abwesenheit bin ich heimgekommen, und meine Kinder haben ihre eigenen Regeln aufgestellt. Der Patriarch ist zurück, doch seine Kinder kennen ihn nicht mehr. Oder sie geben es nicht zu.
    Wenn ich nicht bald eine Reaktion bekomme, muss ich die Sache selbst in die Hand nehmen.

8
    Ich bin überrascht, als die Tür aufgeht. Sie wird nicht von Elba geöffnet, sondern von einem Mädchen. Mit großen braunen Augen. Die Augen werfen mich um. Sie erinnern mich an meine eigenen, als ich klein war. Es ist das Mädchen, das ich bei meiner Ankunft in der Stadt gesehen habe.
    »Hallo«, sage ich. »Wie heißt du?« Ich beuge mich zu ihr hinunter.
    Sie dreht sich weg und geht in die Wohnung, ohne die Tür zu schließen. Elba erscheint. »Das ist meine Tochter«, sagt sie. »Sag dem Mann, wie du heißt.«
    Das Mädchen hebt den Kopf und sagt selbstbewusst, beinah hochnäsig: »Amhara heiße ich.«
    Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Elba ein Kind hat. Sie hatte nichts davon gesagt. Aber wozu auch? In der Siedlung verbringen die Kinder viel Zeit ohne ihre Eltern. Sie werden fast die ganze Woche hindurch intensiv unterrichtet und leben in Internaten. So steigern wir ihr Lernvermögen und sorgen dafür, dass alle die gleiche angemessene Zuwendung erhalten. Ich gehe einmal davon aus, dass sich das seit meiner Zeit nicht geändert hat.
    »Das ist aber ein schöner Name«, sage ich als Antwort. »Und wie alt bist du?«
    »Neun.«
    Ich will aus meiner Enttäuschung darüber, dass Elba eineTochter hat, keinen Hehl machen. Auch wenn ich keine großen Erwartungen in sie setze, wird sie niemals ganz zu mir halten.
    »Ich habe nichts von ihr gesagt, weil die Rede nicht darauf kam«, sagt Elba, als läse sie meine Gedanken.
    »Oh«, antworte ich, »das macht doch nichts.« Ich weiß nicht, was ich sagen soll. »Sie haben eine sehr schöne Tochter.«
    Darauf lächelt Elba zum Glück und fragt, ob ich nicht hereinkommen möchte.
    Wir unterhalten uns ein wenig, während das Kind am Tisch auf einem Bogen Papier zeichnet. Das Gespräch ist ein wenig mühsam. Nach einer Pause meint sie: »Sie scheinen sich Gedanken über sie zu machen«, und deutet mit dem Kopf auf das Mädchen. Es ist eher eine Feststellung als eine Frage. Eigentlich hat sie mich nicht weiter beschäftigt. In unserer Siedlung wäre es ungewöhnlich, wenn eine Frau in einem bestimmten Alter kein Kind hätte, und jetzt sieht man hier wirklich viele Kinder. Tora hatte keins. Als Geliebte des Marschalls genoss sie wohl gewisse Privilegien.
    »Wo ist der Vater?«, frage ich.
    Sie schweigt und sieht mich nicht an. »Fortgegangen«, sagt sie einfach. »Er ist fortgegangen. Er lebt noch, aber er kommt nicht zurück. Nicht wirklich.«
    Ich will fragen, wie sie das meint, aber sie spricht weiter.
    »Er wäre sowieso kein guter Vater. Zu launisch, zu zornig. Ich meine nicht jähzornig, nichts in der Art. Ein Zorn auf die Welt. Obwohl er alles hatte und sehr erfolgreich war bei uns, war er zornig. Zu sagen, er sei freiwillig gegangen, wäre falsch. Er hätte nicht bleiben können. Das merkten auch andere. Es war, als wäre er ständig auf der Suche nach etwas anderem, anderswo. Hier war kein Bleiben für ihn.«
    »Und wo ist er?«
    Sie antwortet nicht. Sie hält den Kopf gesenkt.
    »Den Namen hat er ihr gegeben«, sagt sie unvermittelt und deutet auf Amhara. »Oder jedenfalls vorgeschlagen. Er ist weg, bevor sie geboren wurde. Ein längst ausgestorbenes Volk, das einmal die Welt regiert hat, an das aber nur noch Ruinen erinnern. Sagte er zumindest, ich habe nie davon gehört. Er wusste angeblich sehr viel über die

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