Die Wand der Zeit
änderte. Eines Tages stieß ich auf einen an die Küste gespülten Mann. Er lag halb tot am Strand. Ich holte ihn ins Leben zurück, versorgte ihn, aber er hatte irgendein Trauma erlitten und sprach kein Wort. Stumm wie ein Stein. Bis heute hat er noch keinen Ton gesagt, und es ist Wochen her, dass er auf meine Insel kam.
Doch das war nicht irgendjemand. Zuerst habe ich ihn zwar nicht erkannt, aber dann wurde mir klar, dass er niemand Geringeres war als Andalus, der General von Axum, mit dem ichunseren Frieden ausgehandelt hatte. Da begriff ich die Tragweite seiner Anwesenheit, die unerhörte Gefahr, die meinem Volk womöglich drohte. In Axum gab es schon immer Parteien, die den Friedensvertrag ablehnten. Wenn sie die Oberhand gewonnen und Andalus vertrieben hatten, stand außer Zweifel, wem sie als Erstes ihre Aufmerksamkeit widmen würden, und ich befürchtete, unser Volk sei schwach geworden nach den Jahren ohne Krieg. Und auch wenn es weit hergeholt scheint, konnte er nicht sogar von einem fremden Volk vertrieben worden sein? Selbst wenn er nicht entmachtet worden war – was hatte er als General hier zu suchen? War er auf Erkundung? Auf der Suche nach neuem Land? Der Friedensvertrag verbietet das strengstens. Es musste etwas geschehen. Unser Volk musste gewarnt werden.«
Aus dem Augenwinkel sehe ich, dass mich das Kind anschaut, um nicht zu sagen anstarrt. Elba bemerkt es auch und sagt rasch: »Zeit zum Schlafengehen.« Sie nimmt Amhara bei der Hand und führt sie ohne ein weiteres Wort in den hinteren Teil der Wohnung.
Als sie wiederkommt, sagt sie nur: »Anscheinend mag sie Ihre Geschichten.«
Ich schweige.
Darauf schüttelt sie kurz den Kopf, als wäre ihr etwas eingefallen, und sagt: »Sie besuchen mich, haben mir eine Geschichte erzählt, haben meine Tochter kennengelernt, und dabei weiß ich noch nicht mal, wie ich Sie anreden soll.«
Unwillkürlich stoße ich einen Spottlaut aus. Ich hebe die Hand, um mich zu entschuldigen. Sie setzt sich wieder hin, und ich beuge mich zu ihr vor. »Sie sind sehr freundlich zu mir, aber jetzt muss ich Sie doch mal was fragen.« Ich schweige. »Sie wissen doch wohl, wer ich bin?«
Sie schüttelt den Kopf. »Wer sind Sie denn?«
»Bran natürlich.«
Sie lächelt wieder. »Wie unsere Stadt. Das gefällt mir.«
Ich lehne mich wieder zurück und seufze. »Bitte helfen Sie mir doch zu verstehen, was hier vorgeht, Elba. Bitte sagen Sie mir doch, wieso mich niemand grüßt, wieso niemand zugibt, dass er mich kennt. Ich war lange Zeit das Oberhaupt dieser Siedlung, ein Mann, den viele zuletzt verachtet haben, aber jetzt kommt einfach gar nichts. Und wo sind sie alle? Alle, die ich gekannt habe? Ist das eine Geisterstadt?« Ich merke, dass ich etwas laut geworden bin. Wieder halte ich die Hand hoch.
Elba sieht mich über den Tisch hinweg an, steht dann auf, dreht mir den Rücken zu und verschränkt die Arme.
Da sie anscheinend nicht vorhat zu antworten, frage ich nach ein paar Augenblicken: »Woher wussten Sie, was heute Morgen vorgefallen ist? Ich habe es Ihnen nicht erzählt.«
»Die Leute reden.« Sie zuckt die Achseln. Dann: »Ich habe gehört, irgendwer sei irgendwem durch die Straßen nachgejagt. Da nahm ich an, Sie waren das.«
Das ist keine plausible Erklärung, aber ich darf sie nicht zu sehr bedrängen, noch nicht. Sie ist meine bisher beste Informationsquelle.
»Der Mann, den ich verfolgt habe, war der Richter in meinem Prozess. Er ist der erste Mensch, den ich hier mit einem Namen verbinden konnte. Manche Leute kommen mir irgendwie bekannt vor, zum Beispiel der Marschall, den ich von früher zu kennen meine. Trotzdem ist es, als ob alle, die ich gut gekannt habe, verschwunden sind.«
Sie schweigt.
»Und was ist mit der Person, die vor Ihnen hier gewohnt hat? Ich kann nicht glauben, dass Sie sie nicht kennen. UndAbel, mein Nachfolger als Marschall, der die Kampagne gegen mich gesteuert hat? Sie müssen beide kennen. Wo stecken sie?«
»Die Erinnerung trügt manchmal. Sie kann uns sagen, wir sind B, obwohl wir in Wirklichkeit A sind. Manchmal stellt sich heraus, dass man eine ganz andere Vergangenheit hat, als man dachte.«
»Geht hier etwas vor, das ich wissen sollte? Wird etwa ein Plan ausgeheckt, wie man mit mir verfahren soll? Mir ist klar, dass ich für Verwirrung gesorgt haben dürfte. Mir geht es nicht darum, wieder als Marschall eingesetzt zu werden. Ich will auch gar nicht hierbleiben. Ich möchte nur … Ich habe Dinge getan …« Ich komme
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