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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Bruce
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Vergangenheit.« Das klang jetzt etwas verbittert.
    »Trotzdem«, ergänzt sie ruhiger, »auch ohne den geschichtlichen Bezug ist es ein schöner Name. Wie der Abendwind.«
    Ich lächle über ihren malerischen Vergleich. Über die Amharen wird bei uns wirklich gemunkelt. Ich weiß noch, wie ich Tora einmal von einem selbst entdeckten Hinweis auf sie erzählt habe, einem Monolithen mit eingravierter Inschrift. In zwei verschiedenen Schriften. Entziffern konnte ich nur eine: »Wir, die Amhar …« An dieser Stelle war der Stein abgesplittert, und der Rest des Satzes fehlte. Ich suchte noch im Sand herum, fand aber nichts mehr.
    »Sie lachen«, sagt sie und lächelt selbst. Einen Moment lang begegnen sich unsere Blicke, dann schauen wir beide das Kind an.
    Sie wechselt das Thema. »Sie sagen, Sie waren fort. Wo, mit wem, wozu?«
    Ich hole tief Luft. Auf die Frage kann ich ruhig eingehen. »Ich bin vor zehn Jahren weg«, beginne ich. »Bis vor zehn Jahren habe ich hier gelebt. Ich war ein wichtiger Mann. Anscheinend hat man mich vergessen. Unser Volk musste sich mit allem Möglichen herumschlagen, deshalb nehme ich ihm seine Vergesslichkeit nicht übel.« Sie soll wissen, dass ich sie für den kollektiven Erinnerungsverlust der Stadt nicht verantwortlich mache.
    Während wir essen, rede ich weiter. »Ich ging fort … Die Wahrheit ist, ich bin fortgeschickt worden. Die Siedlung hatte sich verändert. Die Leute waren der Meinung, ich könnte sie nicht in die nächste Phase der Gesundung führen. Sie hielten einen Wechsel für nötig. Oder Verräter aus meiner Umgebung haben ihnen eingeredet, er sei nötig. Sie hielten die Maßnahmen, mit denen wir in den zehn Jahren zuvor so gut gefahren waren, nicht mehr für gerechtfertigt. Sagten sie jedenfalls. In Wahrheit konnten sie sich nicht eingestehen, dass ich mit diesen Maßnahmen die Siedlung gerettet und ihrem Leben wieder einen Sinn verliehen hatte und dass sie hinter meiner Politik gestanden hatten, solange sie ihnen in den Kram passte. Sie konnten sich ihre Mitschuld an den Tötungen außerhalb der Stadtmauer, dort wo jetzt der Orangenhain ist, nicht eingestehen. Interessant übrigens, das mit dem Hain. Wo einst Menschen für das Allgemeinwohl ihr Leben ließen, gedeihen jetzt Obstbäume. Gedenkt man so auf angemessene Weise der Toten? Vielleicht schon.«
    Mir wird klar, dass ich vom Thema abgekommen bin und Tora mich mit schief gelegtem Kopf komisch ansieht.
    »Ich bin zu einer Insel gefahren, die gerade noch im Herrschaftsbereich der Siedlung liegt, an der mit Andalus von Axum vereinbarten Grenze. Dort habe ich zehn Jahre verbracht. Ich stellte fest, dass ich auf der Insel ganz gut leben konnte. Es hat zwar praktisch jeden Tag geregnet, und ich glaube nicht, dass ich auch nur einmal die Sonne gesehen habe, aber es ließ sich aushalten. Es war nie zu kalt, und ich fand immer genug Torf und genug Nahrung, um zu überleben. Angebaut habe ich nichts, denn das war unnötig für einen allein. Außerdem merkte ich, dass die Insel kleiner wurde. Wie ein Greis hatte sie noch ein paar Jahre vor sich, aber mehr auch nicht. Die Kliffs auf derNordseite kippten immer schneller ins Meer ab. Fast täglich brach ein Teil weg. Das Wasser dort war immer schwarz vom Schlamm. Für mich war es wie Blut, als wären die Kliffs Menschen, die einer nach dem anderen abstürzten und von der See zerschmettert wurden.
    Nach einiger Zeit merkte ich, dass die Bäume unfruchtbar waren und der Wald sich nicht erneuerte. Ich merkte, dass die Fische knapper wurden, dass das Torfmoor nicht so ausgedehnt war, wie es schien. Statt zu pflanzen stellte ich Berechnungen an – viele Berechnungen. Ich machte mir Notizen und schrieb Beobachtungen und Zahlen auf. Ich kam zu dem Ergebnis, dass die Insel noch ungefähr so viele Jahre zu leben hat wie ich. Mein Tod würde mit dem Ende der Insel als lebensfreundlicher Umwelt zusammenfallen. Das war mir nur recht so. Ich hatte mich damit abgefunden, dachte ich, dass die Insel meine letzte Ruhestätte wird. Ich hatte mich damit abgefunden, dass ich nie wieder hierherkomme. Der Lebensrhythmus auf der Insel war angenehm. Der Alltag, der endlose Regen, das nasse Gras, das die Haut streift, die Stille des Waldes. Trotz meines Alleinseins war es ein besseres Leben, als man meinen könnte.«
    »Warum sind Sie dann wieder weg von der Insel?«, fragt Elba.
    »Warum bin ich weg?«, wiederhole ich mir die Frage. »Ich bin weg, weil etwas geschah, was mit einem Schlag alles

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