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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Bruce
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Staub auf ihrem Gesicht.
    »Gehen Sie.« Die Stimme ist jetzt tiefer, aber immer noch nicht wieder meine. »Gehen Sie.«
    Am Eingang wendet sie sich mir zu. Ich kann sie kaumsehen. Eine graue Wolke. Sie spricht leise. Ich muss genau hinhören. »Sie hat mir gesagt, dass Sie so sind. Entsprechend waren ihre Gefühle für Sie: Liebe, Hass, Angst. Alles. Sie bedingungslos zu lieben war unmöglich. Sie. Sie sind derjenige, der Augen hatte und nichts gesehen hat. Der nicht begreifen wollte.«
    Sie wendet sich wieder ab. Sie entschwebt mir, entgleitet in die Dunkelheit.
    Ich habe keine Zeit zu verlieren. Ich hebe einen dicken Stock vom Boden auf und vergewissere mich, dass ich mein Messer dabeihabe. Ich laufe zum Rathaus. Am Eingang zum Hof bleibe ich stehen und drücke mich in den Schatten. An der Tür steht ein Posten. In Gedanken befehle ich ihm, mich nicht zu sehen. Ich halte mich im Schatten und gehe außen herum. Es funktioniert. Ich bin fast bei ihm, als er mich bemerkt. Er nimmt die Hände hoch, aber ich habe bereits ausgeholt, und der erste Schlag wirft ihn nieder. Ich laufe die Treppe hinauf.
    An der Tür bin ich außer Atem. »Tora«, rufe ich. Ich rufe es drei Mal. Beuge mich zur Tür vor, drücke das Ohr dagegen. Und ich höre eine Antwort. Eine Silbe. Leise. Ein einziges Wort. »Bran.« Aber diesmal weiß ich, dass sie es ist.
    »Tora.« Ich bringe es kaum heraus. Ich habe sie gefunden.
    Dann höre ich Geräusche im Raum, ein Handgemenge vielleicht. Ich ramme die Schulter gegen die Tür. Sie gibt nicht nach. Ich versuche das Schloss mit dem Messer aufzubrechen, aber es gelingt mir nicht. Ich schlage mit dem Stock gegen die Tür. Die Schläge prallen ab. Sie ist ungewöhnlich stabil. Man könnte meinen, dass auf der anderen Seite etwas dagegendrückt und meine Schläge abwehrt. Ich horche noch einmal, doch die Geräusche sind verstummt. »Tora?«
    Nichts.
    »Ich komme wieder. Ich hole mir eine Axt.«
    Schon laufe ich die Treppe hinunter und zur Tür hinaus. Der Posten ist verschwunden.
    Ich komme nicht weit. Am Hofeingang stehen Männer. Sie haben Speere und einen Strick dabei.
    Meine Zeit ist um.
    Der Posten, den ich überwältigt habe, ist bei ihnen. Er kommt zu mir und greift mir an den Hals. Erst umfasst er ihn sanft, dann drückt er zu. Ich halte still. Statt etwas zu sagen, zwinkert er nur. Er tritt zur Seite und bedeutet mir, mitzukommen.
    Ich werde in eine Gefängniszelle gesperrt, die gleiche wie vor zehn Jahren. Die Wände sind aus Stein. Als die Tür hinter mir geschlossen wird, ist es stockdunkel. Ich setze mich an die Wand, ziehe die Knie an die Brust. Ich lege den Kopf in den Nacken, schlage die Augen auf. Gestalten schweben vom Rand meines Gesichtsfelds auf mich zu. Wenn ich sie anschaue, verschwinden sie. Immer wieder entstehen neue in dem schwarzen Licht. Ich lasse sie zu mir kommen und blende sie nicht aus.
    Später liege ich mit dem Gesicht zur Wand. Ich höre, wie die Luke in der Tür geöffnet wird, dann Elbas Stimme: »Bran.«
    Nach einem Augenblick stehe ich auf und gehe zu ihr.
    Es ist still zwischen uns. Wir sehen uns nur an.
    »Noch ist Zeit«, sagt sie.
    Ich senke den Blick. »Amhara.« Ich weiß selbst nicht, was ich sagen möchte. »Tora.«
    Sie hebt ein wenig die Stimme. »Bran. Sie wissen nicht, was passiert, wenn Sie gehen.«
    Ich fasse durch die Luke nach ihrem Gesicht. Ich drücke es leicht, und diesmal schmiegt sie sich in meine Hand. Eine imDunkeln stehende Gestalt zieht sie weg. Ich sehe zu, wie die Dunkelheit sie verschluckt. Sie ist fort.
    Sonst kommt niemand mehr. Ich schlafe nicht. Man bringt mir nichts zu essen, und ich trinke nichts. Ich warte ab, was kommt.
    Fast einen Tag später öffnet sich die Tür. Zwei Soldaten packen mich bei den Armen und führen mich hinaus. Die Zellen sind auf der Rückseite des Rathauskomplexes. Ich werde aus dem Hof geführt. Es ist gegen Abend.
    Und jetzt sind alle da. Mein Volk ist aus den Häusern gekommen. Sie säumen die Straße, manche Arm in Arm, andere mit Kindern an der Hand. Man schaut mich an, oder man sieht zu Boden. Alle Gesichter sind ausdruckslos. Die Haustüren stehen offen.
    Es ist still. Hunderte Menschen, und es ist still wie noch nie. Ich gehe langsam weiter. Die von hinten andrängenden Soldaten lassen keinen Zweifel daran, dass es für mich zum Stadttor geht.
    Ich halte nach bekannten Gesichtern in der Menge Ausschau. Ich sehe viele. Tora oder Elba sehe ich nicht. Aber ich erhasche einen Blick auf Amhara. Nur kurz.

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