Die Wand der Zeit
Er schweigt eine Weile. Ich ebenso. Schließlich sagt er: »In unserer Erinnerung gibt es Sie nicht.«
Damit steht er auf und geht zur Tür. Im Hinausgehen sagt er: »Sie haben bis morgen früh Bedenkzeit.«
Ich bin mit Elba allein. Ich schaue zu ihr hinüber. Sie schweigt. Ich stütze den Kopf in die Hände. Schließlich blicke ich wieder auf und stelle fest, dass sie mich ansieht.
»Warum müssen Sie die Leute immer ärgern?«
Darauf antworte ich nicht. Ohne sie anzusehen, frage ich: »Was ich über Amhara gesagt habe, stimmt, oder?«
Sie schweigt.
»Es stimmt, ja? Sie ist die Tochter von Tora und mir. Sie ist im richtigen Alter. Sie hat meine Augen. Sie könnte in unserer letzten gemeinsamen Nacht gezeugt worden sein. Bevor sie endgültig zu Abel ging. Und Sie sind eine Freundin von Tora und nicht die Mutter des Kindes.«
»Wenn Sie das möchten, ist sie Ihre Tochter. Sie haben hier eine Rolle auszufüllen. Dieses Mal können Sie Vater sein. Die Bedingung steht noch.«
Ich seufze.
Sie greift über den Tisch und umfasst meine Hände. »Lassen Sie das doch. Geben Sie Ihre Suche auf. Vergessen Sie Ihre Geschichten von der Vergangenheit.«
»Warum sagen Sie ›dieses Mal‹ und Ähnliches, wenn Sie mir nicht glauben, wenn Sie nicht wissen, dass meine Geschichte stimmt? Geben Sie’s doch zu!«
Sie schüttelt den Kopf. »Gibt es denn nichts Wichtigeres als Ihr Schuldbewusstsein?«
Ich blicke auf den Tisch. »Danke«, sage ich. »Sie sind sehr nett zu mir, und ich weiß, Sie meinen es gut.« Ich schweige. »Wenn Sie erlauben, möchte ich Ihnen gerne etwas zeigen, das ich Ihnen schon längst zeigen wollte.«
»Was denn?«
»Dazu müssen wir rausgehen. Es ist ein paar Minuten von hier.« Ich stehe auf. »Kommen Sie.« Ich strecke ihr die Hand entgegen.
Draußen ist es kalt. Elba zittert, und ich lege den Arm um sie. Ich führe sie auf die Gasse.
»Wohin gehen wir?«, fragt sie ängstlich.
Statt zu antworten, nehme ich sie wieder bei der Hand. Sie lässt sich ein wenig zurückhängen, während ich zügig ausschreite und ihre Hand festhalte.
»Sie tun mir weh.«
»Kommen Sie doch. Sie müssen mitkommen.«
»Sagen Sie mir, was Sie mir zeigen wollen.«
»Nein. Sie müssen es erst sehen. Sich ansehen und dann urteilen.«
»Aber was denn? Es ist dunkel. Kein Mond und nichts. Was soll ich da sehen?«
Sie entzieht mir ihre Hand. Ich drehe mich um und greife nach ihrem Arm. Er ist weich, dünner, als ich dachte. Vogelknochen. Ich sehe sie an. Sie ist grau im Gesicht. Grau wie das Licht. Ich ziehe sie mit. Sie stolpert. Ich hebe sie auf. Wie leicht sie ist. Wie leicht in meinen Armen. Ich hebe sie wie einen Sack hoch und stelle sie wieder auf die Füße. Meine Finger graben sich tief in ihr Fleisch. Ihr Mund bewegt sich nicht, ist schlaff im Licht geöffnet. Die Hand auf ihrer Papierhaut, leite ich sie die Gassenmauer entlang.
»Bitte! Was haben Sie vor?«
Wir sind Liebende beim Tanz. Ich halte sie fest an mich gedrückt.
Ohne ihre Arme loszulassen, drehe ich sie herum. Ich schlage die Plane am Unterstand zurück und taste nach dem Porträt.Sie entschlüpft mir und will weglaufen. Mit drei Schritten habe ich sie wieder. Drehe ihr den Arm auf den Rücken. »Sie sehen sich das jetzt an. Schauen Sie.«
Ich reiße die Abdeckung herunter, und da ist es. Die Farben irgendwie kräftiger. Ein Leuchten unter der Haut, hinter den Augen. Ich halte sie mit der einen Hand fest und hebe mit der anderen das Porträt hoch.
»Schauen Sie«, sage ich leise. »Schauen Sie den Mann an.«
Ich sehe ihr Gesicht von der Seite. »Was?« Sie wendet sich zu mir. Ihre Stimme ist brüchig.
»Was sehen Sie?«
»Gar nichts.«
»Was sehen Sie?« Meine Stimme ändert sich. Es ist nicht mehr meine.
»Gar nichts.«
Ich nehme ihr Kinn in die Hand, drücke zu. »Warum sehen Sie nichts? Schauen Sie mich an. Warum sehen Sie nichts? Ist da nichts zu sehen? Nichts zu befürchten? Von Ihrem Marschall? Sie haben Angst vor ihm. Sie haben Angst vor diesen Menschen und ihrer Missachtung der Vergangenheit. Das merke ich Ihnen an. Ich spüre Ihre Angst. Die ganze Stadt hat Angst. Alle bleiben in den Häusern, damit sie bloß nicht verraten, dass sie mich kennen – wer weiß, was sonst passiert!«
Ich schüttle sie. Sie schließt die Augen. Ich schüttle sie noch einmal. Ihr Kopf rollt dabei hin und her. Eine Träne kommt. Ich nehme ihr Gesicht in die Hände. Ich wische die Träne weg, und sie gräbt Furchen in den Staub meiner Hände, den
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