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Die Wand der Zeit

Die Wand der Zeit

Titel: Die Wand der Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Bruce
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stammen, die mich aus der Stadt gebracht haben. Sie sind frisch. In der Nacht müssen Leute an mir vorbeigelaufen sein. Eine Spur bildet eine Furche. Als wäre jemand über den Boden geschleift worden. Mit zusammengebundenen Füßen. Ich folge ihr.
    Ich weiß nicht mehr genau, wann ich sie erblicke.
    Sie tauchen aus dem weißen Mittagslicht auf, nicht plötzlich, sondern wie durch Osmose. Ein Trugbild. Die Beine knicken unter mir weg.
    Ich sage nichts, denke nichts.
    Dann stehe ich auf und laufe los. Ich laufe auf den Baum zu, den Baum, unter dem Andalus und ich gerastet haben, unter dem Tora und ich uns vor Jahren getroffen haben.
    Andalus steht unter dem Baum. Ich laufe zu ihm. Er stehtmit dem Rücken zu mir, aber mein Blick gilt nicht ihm. Ich bleibe ein paar Meter hinter ihm stehen. Er schaut an dem Baum hoch. Ich auch.
    Er betrachtet die Tote, die da am trockenen Geäst des Baums hängt.
    Ein Laut entweicht meiner Kehle.
    Tora. Meine Tora. Sie sieht genauso aus wie damals, als sie vom Strand aus hinter mir hergeschaut hat, den salzigen Wind in den Haaren.
    Ich höre nichts als Wellen, wie vom Meer jenseits der Berge.
    Sie hat einen Blutstropfen im Mundwinkel. Auf die Lippe gebissen. Ein Schlag. Aus der Kehle heraufgewürgt.
    Es tut mir leid. So leid.
    Langsam schwingt sie an dem Ast hin und her.
    Andalus steht reglos da. Ein halb aufgelöster Andalus.
    Ich taste nach meinem Messer. Es ist nicht mehr da.
    Ich greife nach Toras Beinen. Halte sie fest. Schnuppere daran. Sie sind noch warm. Sie riechen nach ihr. Wie im Leben. Ich schaue zu ihr hoch. Die durch das Geäst dringende Sonne blendet ihr Gesicht aus. Sie ist erst ein paar Stunden tot.
    Wieder ein Laut von mir.
    Ich hebe einen Stein auf. Ich klettere auf den Baum und schabe mit dem Stein den Strick durch. Das dauert lange. Ihr Körper fällt auf den Boden. Das Kleid bedeckt ihr Gesicht, die Beine sind nackt, tot.
    Andalus rührt sich nicht.
    Ich klettere vom Baum und gehe zu ihm. Ich lege ihm die Hand auf die Schulter.
    Und dann schlage ich zu. Ich halte noch den Stein in der Hand, mit dem ich Tora abgeschnitten habe. Ich hole aus und versetze ihm einen Schlag auf die Schläfe. Er sieht ihn kommen.Er wehrt sich nicht. Ich schaue ihm dabei in die Augen. Ich schaue ihm in die Augen, und er reißt sie auf, aber er schreit nicht, er sagt kein Wort. Ich schlage immer wieder zu. Einige Schläge klatschen auf Blut – ein Stein, der in einen Tümpel fällt. Andere gehen glatt vorbei. Immer mehr gehen vorbei. Nach einer Weile höre ich nichts mehr. Keinen Laut. Und in meinen Armen ist nichts, zu meinen Füßen auch nicht. Gar nichts.
    Ich falle wieder auf die Knie. Dann wälze ich mich herum. Ich atme schwer. Ich halte mir einen Arm vors Gesicht.
    Lange bleibe ich so liegen.
    Ich stehe auf.
    Ich stehe auf und gehe los. Zwei Stunden gehe ich ohne Pause.
    Dann mache ich kehrt.
    Ich kehre zu dem Baum, zu der Leiche zurück. Es ist nur eine. Von Andalus ist nichts geblieben. Kein Blut. Keine Leiche. Nichts.
    Ich begreife jetzt, was er war.
    Oder vielmehr, ich hatte es schon vorher begriffen, aber nicht gewusst. Es mir nicht eingestanden.
    Ich scharre ein Loch in die Erde. Lege sie hinein. Bedecke sie, von den Füßen aufwärts, mit Steinen. Bei jedem Stein, den ich auf sie lege, schaue ich ihr Gesicht an. Ich beeile mich nicht. Sie sieht friedlich aus. Ihre Haut ist grau und straff. Tot sieht sie aus. Ein Käfer krabbelt ihr aus dem Mund. Ich begrabe sie mit dem Gesicht nach oben, nackt, der Erde preisgegeben. So ist unser Brauch.
    Ich lege mich neben sie hin. Die Nacht bricht herein, und ich hülle mich in meine Jacke. Insekten streichen mir um die Ohren.Ich schlafe unruhig, friere. Mit der einen Hand scharre ich die Erde auf. Sie ist warm. Ich schlafe mit einer Hand im Erdreich, staubüberweht.
    Am Morgen sehe ich sie. Zwanzig, dreißig Mann. Sie sind weit weg. Sie schimmern. Verschwinden, tauchen wieder auf. Sie sind mit Stöcken, Keulen, Speeren bewaffnet.
    Schnell laufe ich los.
    Jedes Mal, wenn ich mich umblicke, sehe ich sie. Ich wage nicht, stehen zu bleiben oder auch nur nachzudenken. Im Vorbeilaufen pflücke ich Obst von den Bäumen. An Bächen trinke ich hastig. Die schwarzen Gestalten am Horizont hetzen mich voran. Vom Gipfel des Bergs sehe ich, wie sie sich auf der Ebene unten verteilen. Vom Fuß des Bergs sehe ich sie auf dem Gipfel, jeder ein Schattenriss vor dem weißen Himmel.
    Ich schlafe. Ich kann nicht anders. Aber immer nur ein paar Minuten. Ich

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