Die Wand der Zeit
Sie beobachtet mich und beißt sich auf die Lippe. Keiner der Leute, die ich kenne, grüßt mich. Die Schaulustigen, an denen ich vorbei bin, schließen sich unserem Tross an und folgen mir zum Tor.
Ich muss daran denken, wie ich vor wenigen Tagen die Stadt betreten habe. Da war mir, als ob Scharen von Menschen, die ich nicht sehen konnte, vor mir zurückwichen, um mich durchzulassen und dann hinter mir herzuschauen. Jetzt sehe ich sie.
Als wir uns dem Tor nähern, sehe ich, dass Abel dort zwischen den Holzpfeilern steht. Er streckt mir die Hände entgegen,fasst mich bei den Armen, beugt sich vor und küsst mich auf beide Wangen. Er nimmt Abschied. Schweigend. Er nickt einem der Soldaten zu, der mich vorwärts stößt. Wir gehen zur Stadt hinaus, Abel neben mir.
»Warum?«
Abel bleibt stehen. Er geleitet mich am Arm außer Hörweite der Soldaten. »Das ist Ihnen doch wohl klar«, sagt er leise.
Mir ist fast zum Lachen. »Warum haben Sie mich denn nicht gleich gehenkt?«
»Das wäre nicht richtig gewesen.«
Ich sage nichts. Es ist zu spät. Plötzlich wird mir bewusst, dass ich nicht sterben will. Und dass ich Angst habe, zurück auf die Insel zu müssen. Da will ich nicht wieder hin.
»Wohin bringen Sie mich?«, frage ich mit rauer Stimme. Abel schweigt.
»Sie wollen mich hängen«, sage ich. »Im Orangengarten, in Sichtweite der Hütte wollen Sie mich hängen lassen. Das weiß ich. Sie haben Angst, mir öffentlich den Prozess zu machen – noch einmal den Prozess zu machen«, verbessere ich mich, »weil Sie Angst vor der Vergangenheit haben. Vor dem, was sich nicht ungeschehen machen lässt. Anscheinend habe ich einen Nachfolger und ein Gemeinwesen hervorgebracht, die sich ihrer Vergangenheit schämen. Seht mich an, denn ich bin in euch allen«, rufe ich laut in die Menge hinein.
Abel packt mich am Hemdkragen. »Wie war das noch mit dem Paradies, dem besseren Leben, dem Wiedererstarken der Menschheit – wollen Sie das jetzt alles kaputt machen? Wir haben Angst vor der Vergangenheit, sagen Sie, aber was ist mit der Zukunft? Was wollen Sie eigentlich, Bran? Wissen Sie das?«
Ich sage nichts.
Er lacht. »Sie hatten mich überrumpelt, als Sie da so unverhofftwiederauftauchten. Das muss ich jetzt hinbiegen. Es war vielleicht ein Fehler, Sie nicht gleich zu töten, als wir Sie über den Berg kommen sahen. Aber Gespenster kann man nicht töten, jedenfalls nicht öffentlich.«
Er lässt mich los und setzt dann leise hinzu: »Fantasie. Wie fühlt man sich so als Fantasiegestalt.« Es ist keine Frage. Er klopft mir auf die Schulter. Einen Moment bleibt die Hand liegen.
Er nimmt sie herunter und geht in Richtung Stadt.
»Warten Sie!«, rufe ich. »Meine Tochter. Amhara. Was haben Sie ihr über mich erzählt?«
Abel bleibt stehen und dreht sich nach mir um. »Ihre Tochter weiß nichts von Ihnen, Bran, und wird nie etwas von Ihnen erfahren. Sie ist jetzt unsere Zukunft.« Er dreht sich wieder um und geht davon.
Ich schaue ihm nach. Er ist schon ein ganzes Stück weg. Nur die beiden Soldaten eskortieren mich noch.
Und dann sehe ich
sie.
Sie ist unter den Leuten, zwei Reihen entfernt, von Fackeln erhellt. Sie ist es. Sie muss es sein. Eine, die ich so gut kenne, die so sehr zu meinem Leben gehört hat: Freundin, Geliebte, Verräterin. »Tora!«, rufe ich, so laut ich kann, »Tora!« Die Gesichter in dem Menschenmeer starren mich prompt an, und ich weiß, dass sie es ist. Sie ist weit weg, aber sie muss es sein. Hält sie jemand zurück? Ich rufe noch einmal nach ihr und versuche hinzulaufen. Ich laufe los, doch die Soldaten versperren mir den Weg. Ich kämpfe mich durch sie hindurch und habe schon freie Bahn zur Stadt, da stellt mir einer ein Bein, setzt mir den Fuß ins Kreuz und lässt mich Staub schmecken. Wieder winde ich mich los und stehe auf, doch einer der Soldaten packt mich am Hals und drückt zu, und an mehr erinnere ich mich nicht.
12
Als ich zu mir komme, graut der Morgen. Ich schmecke Blut und Staub und kann nicht durch die Nase atmen. Mein Auge ist zugeschwollen, und ich habe Blessuren an der einen Gesichtshälfte. Hinter mir kann ich so eben noch die Stadt ausmachen. Von da, wo ich liege, laufen Spuren durch den Sand. Mir wird klar, dass sie mich fast eine Meile aus der Stadt herausgeschafft haben. Auch wenn ich nicht viel erkennen kann, scheint mir, das Tor ist geschlossen und die Menschen sind weg.
Nach einiger Zeit merke ich, dass die Spuren im Sand nicht nur von mir und den beiden Soldaten
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