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Die Wand

Titel: Die Wand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marlen Haushofer
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merkte selbst, daß ich mich benahm wie die Katze, die durch ihre Krankheit in eine kindliche Lebensform zurückgeglitten war. Vor dem Einschlafen war es mir oft, als läge ich in meinem Nußholzbett neben dem elterlichen Schlafzimmer und lauschte dem eintönigen Gemurmel, das durch die Wand zu mir drang und micheinschläferte. Immer wieder sagte ich mir, daß ich endlich wieder stark und erwachsen werden müßte, aber in Wahrheit wollte ich zurück in die Wärme und Stille des Kinderzimmers, oder noch weiter zurück in die Wärme und Stille, aus der man mich ans Licht gerissen hatte. Ich war mir der Gefahr undeutlich bewußt, aber die Verlockung, nach so vielen Jahren einmal sich sinken zu lassen, war zu stark, als daß ich ihr hätte widerstehen können. Luchs war unglücklich darüber. Er trieb mich an, mit ihm in den Wald zu gehen, dies und das zu unternehmen und meine Verschlafenheit abzuschütteln. Mein kleines kindisches Ich wurde sehr böse auf Luchs und wollte nichts davon wissen. So trieb ich dahin im feuchten Glanz der Märztage, der die Blumen zu früh aus der Erde gelockt hatte. Leberblümchen, Schlüsselblumen, Lerchensporn und Butterblumen. Alle waren sie sehr lieblich und zu meiner Freude geschaffen.
    Wer weiß, wie lange ich noch so dahingelebt hätte, wäre nicht Luchs dazwischengekommen. Er hatte sich angewöhnt, auf eigene Faust kleine Ausflüge zu unternehmen, und eines Mittags kehrte er winselnd zurück und zeigte mir seine blutiggequetschte Vorderpfote. Mit einem Schlag verwandelte ich mich zurück in eine erwachsene Frau. Es sah aus, als wäre Luchs unter einen schweren Stein geraten. Ich wusch die Pfote, und da ich nicht feststellen konnte, ob sie gebrochen war, schiente ich sie mit Holzstückchen und gab einen Salbenverband darüber. Luchs ließ alles willig geschehen, hocherfreut über das Interesse, das ich ihm entgegenbrachte. Die nächsten zwei Tage lag er im Ofenloch und döste vor sich hin. Ich machte mir Vorwürfe, durch mein Versagen war der Hund in diese Lage gekommen. Ich hatte mich einfach nicht um ihn gekümmert und ihn im Stich gelassen. Ich untersuchte die Pfote neuerlich und sah, daß sienicht gebrochen war. Luchs fing an, sich die Salbe herunterzulecken, und ich erneuerte den Verband nicht mehr. Luchs wußte wohl selbst, was ihm gut tat, und er wollte seine Wunde lecken können. Nach einer Woche lief er wieder, zunächst noch hinkend, aber bald so gut wie früher. Die Pfote blieb ein wenig breiter und formloser als zuvor.
    Plötzlich erschienen mir die letzten Wochen völlig unwirklich. Ich dachte wieder an meine Arbeit und machte Pläne für die Übersiedlung auf die Alm. Da brach der Winter neuerlich herein. Der Schnee begrub die Bäume auf der Bachwiese und meine Träume von einem behüteten Kinderschlaf. Es gab keine Sicherheit in meiner Welt, nur Gefahren von allen Seiten und harte Arbeit. Es war mir auch ganz recht so; der Gedanke an das, was in der letzten Zeit aus mir geworden war, ekelte mich an.
    Der Holzstoß in der Nähe der Hütte war verbrannt, und ich ging daran, von einem etwas entfernteren Stoß die Scheite im Schnee herbeizuschleifen. Der Schnee war glatt und fest, und die Arbeit fing an, mir Freude zu machen. Meine Hände waren bald wieder rissig und voll Pech und kleiner Holzsplitter. Die Säge war ein wenig stumpf geworden, und ich wagte nicht, sie zu schärfen, weil ich fürchtete, ihr bei meinem Ungeschick die letzte Schneide zu nehmen. So wurde das Holzschneiden eine harte Arbeit, und jeden Abend ging ich ganz zerschlagen zu Bett. Aber endlich wurde ich auch hungrig und konnte sogar Fleisch mit Appetit essen. Bald spürte ich, daß ich wieder kräftiger und gewandter wurde. Luchs lief überallhin mit mir und schien seine Pfote nicht mehr zu spüren. Wir waren jetzt drei Invaliden, rüstige Invaliden, denn auch die Katze hatte sich endlich ermuntert und ihre unnatürliche Sanftheitabgelegt. Stier wurde noch immer größer und prächtiger, die Garage schien mir wie ein Spielzeughaus, so sehr füllte er sie aus. Ich freute mich auf den Tag, an dem er die Almmatten wieder unter seinen Hufen spüren würde.
    Nur der Gedanke an die Katze quälte mich jeden Abend, wenn ich an die Übersiedlung dachte. Es hatte keinen Sinn, sie mitzunehmen. Sie würde doch nur nach Hause laufen, und wenn ich sie zurückließ, konnte ich ihr wenigstens die Gefahren des weiten Heimwegs ersparen. Ich sah, wie sie sich jeden Tag mehr in ihr altes kratzbürstiges Ich

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