Die Wand
Da ich nicht an schwere Arbeit gewöhnt war, fühlte ich mich dauernd wie erschlagen. Es fehlte mir auch noch die richtige Einteilung. Ich arbeitete zu schnell oder zu langsam, und ich mußte mir jede Arbeit erst selber unter vielen Rückschlägen beibringen. Ich wurde mager und kraftlos, und sogar die Stallarbeit strengte mich übermäßig an. Ich weiß nicht, wie ich es fertigbrachte, diese Zeit zu überstehen. Ich weiß es wirklich nicht; wahrscheinlich gelang es mir nur, weil ich es mir in den Kopf gesetzt hatte und weil ich für drei Tiere zu sorgen hatte. Durch die dauernde Überanstrengung ging es mir bald wie dem armen Hugo; ich schlief ein, sobald ich mich auf die Bank setzte. Dazu kam noch, daß ich zwar Tag und Nacht von gutemEssen träumte, sobald ich aber essen wollte, brachte ich kaum ein paar Bissen hinunter. Ich glaube, ich lebte nur von Bellas Milch. Sie war das einzige, was mir nicht widerstand.
Ich war viel zu sehr in diese Mühsal verstrickt, als daß ich meine Lage hätte klar überblicken können. Da ich beschlossen hatte durchzuhalten, hielt ich durch, aber ich hatte vergessen, warum das wichtig war, und ich lebte nur von einem Tag zum andern. Ich weiß nicht mehr, ob ich damals häufig in die Schlucht ging, wahrscheinlich nicht. Ich erinnere mich nur, daß ich einmal, Ende Juni, zur Bachwiese ging, um nach dem Gras zu sehen, und dabei durch die Wand blickte. Der Mann am Brunnen war umgefallen und lag jetzt auf dem Rücken, die Knie leicht angezogen, die gehöhlte Hand noch immer auf dem Weg zum Gesicht. Ein Sturm mußte ihn umgestürzt haben. Er sah nicht aus wie ein Leichnam, eher wie eine Ausgrabung in Pompeji. Während ich so stand und auf das steinerne Unding starrte, sah ich unter einem der Büsche jenseits der Wand zwei Vögel im hohen Gras liegen. Auch sie mußte der Wind von den Büschen getragen haben. Sie sahen hübsch aus, wie bemaltes Spielzeug. Ihre Augen glänzten wie geschliffene Steine, und die Farben des Gefieders waren nicht verblaßt. Sie sahen nicht tot aus, sondern wie Dinge, die niemals lebendig gewesen waren, ganz und gar anorganisch. Und doch hatten sie einmal gelebt, und ihr warmer Atem hatte die kleinen Kehlen bewegt. Luchs, der wie immer mit mir war, wandte sich ab und stieß mich mit der Schnauze an. Er wollte, daß ich weiterging. Er war vernünftiger als ich, und so ließ ich mich von ihm von den Steindingern wegführen.
Wenn ich später zur Wiese mußte, vermied ich es meistens, durch die Wand zu schauen. Sie wuchs im erstenSommer schon fast ganz zu. Einige von meinen Haselstöcken hatten wunderbarerweise Wurzel geschlagen, und bald zog sich an der Wand ein grüner Zaun dahin. Auf der Bachwiese blühten Steinnelken, Akelei und ein hohes gelbes Kraut. Die Wiese sah heiter und freundlich aus im Gegensatz zur Schlucht, aber da sie an die Wand stieß, konnte ich mich nie mit ihr befreunden.
Ich war zwar durch Bella ans Jagdhaus gefesselt, aber ich wollte doch versuchen, mich noch ein wenig in der Gegend umzusehen. Ich erinnerte mich an einen Weg, der zu einer höher gelegenen Jagdhütte führte und von dort h'^ab in das gegenüberliegende Tal. Dorthin wollte ich gehen. Da ich die Kuh nicht lange allein lassen durfte, beschloß ich, schon nachts aufzusteigen. Es war gerade Vollmond und das Wetter klar und warm. Ich molk Bella erst spät am Abend, ließ Heu und Wasser im Stall und stellte für die Katze Milch vor den Herd. Beim ersten Mondlicht, gegen elf Uhr, brach ich mit Luchs auf. Ich nahm etwas Proviant mit mir, die Büchsflinte und das Fernglas. Das alles belastete mich zwar, ich wagte aber nicht, unbewaffnet zu gehen. Luchs war aufgeregt und hoch erfreut über diesen späten Spaziergang. Ich stieg zunächst zur Jagdhütte auf, die noch in Hugos Revier lag. Der Pfad war gut erhalten, und der Mond gab genügend Licht. Ich habe mich nie nachts im Wald gefürchtet, während ich in der Stadt immer ängstlich war. Warum das so war, weiß ich nicht, wahrscheinlich weil ich nie daran dachte, daß ich auch im Wald auf Menschen treffen könnte. Der Aufstieg dauerte fast drei Stunden. Als ich aus dem Waldschatten trat, lagen die kleine Lichtung und in ihrer Mitte die Hütte im weißen Licht vor mir. Ich wollte die Hütte erst auf dem Rückweg durchsuchen und setzte mich auf die Bank davor, um ein wenig auszuruhen und aus der Thermosflaschezu trinken. Es war hier viel kühler als im Talkessel, vielleicht hing dieser Eindruck aber nur mit dem weißen kalten Licht
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