Die Wand
schreiben. Den Sommerduft, die Gewitterregen und die sternenfunkelnden Abende werde ich nie vergessen.
Am Nachmittag des ersten Tages auf der Alm saß ich auf der Bank vor der Hütte und wärmte mich in der Sonne. Ich hatte Bella an einen Pflock gebunden. Der kleine Stier entfernte sich nie weit von seiner Mutter. Schon eine Woche später verzichtete ich auf diese Vorsichtsmaßnahme. Bella war von angenehmer, gleichmäßiger Gemütsart und machte mir nie die geringsten Schwierigkeiten, und ihr Sohn war damals ein glückliches, übermütiges Kalb. Er wurde zusehends größer und kräftiger, und ich hatte noch immer keinen Namen für ihn gefunden. Natürlich gab es eine Menge Namen für einen Stier, aber sie gefielen mir nicht und klangen alle ein wenig läppisch. Er hatte sich außerdem schon daran gewöhnt, Stier gerufen zu werden, und folgte mir wie ein großer Hund. So ließ ich es eben dabei, und mit der Zeit dachte ich gar nicht mehr daran, ihm einen anderen Namen zu geben. Er war ein argloses, zutrauliches Geschöpf und hielt, wie ich deutlich sehen konnte, das Leben für ein einziges großes Vergnügen. Noch heute bin ich froh darüber, daß Stier eine so glückliche Jugend hatte. Er hörte nie ein böses Wort, wurde nie gestoßen oder geschlagen, durfte die Milch seiner Mutter trinken, zarte Almkräuter fressen und nachts in Bellas warmem Dunstkreis schlafen. Ein schöneres Leben gibt es nicht für einen kleinen Stier, und er hatte es wenigstens eineZeitlang so gut. Zu einer anderen Zeit und im Tal geboren, hätte man ihn längst zum Schlächter getrieben.
Nach der ersten Woche, die ich mit Arbeiten im Haus und im Stall und mit dem Sammeln von Fallholz verbracht hatte, wollte ich mich ein wenig in der Umgebung umsehen. Die Almhütte lag eingebettet in die weite grüne Mulde der Matten zwischen zwei steilen Gebirgsrücken, die ich nicht besteigen konnte, weil ich nicht schwindelfrei war und ich mich dem Klettern auf Gemspfaden nicht gewachsen fühlte. Ich besuchte auch wieder den Aussichtspunkt und überblickte das Land mit dem Fernglas. Niemals sah ich Rauch aufsteigen oder eine Bewegung auf den Straßen. Eigentlich sah ich auch die Straßen nur noch verschwommen. Sie mußten teilweise mit Unkraut überwachsen sein. An Hand von Hugos Autokarte suchte ich mich zurechtzufinden. Ich befand mich am nördlichen Ende eines langgezogenen Gebirgsmassivs, das sich nach Südosten hin erstreckte. Die beiden Täler, die von mir aus ins Alpenvorland führten, hatte ich schon besichtigt; in einem von ihnen wohnte ich ja. Aber dieses Gebiet war nur ein kleiner Teil des Gebirgsstocks. Wie weit sich das freie Gebiet nach Südosten erstreckte, konnte ich nicht erkunden. Ich durfte mich ja nicht zu lange vom Haus entfernen, und selbst mit Luchs wäre mir das Unternehmen gefährlich erschienen. Wenn das ganze Massiv frei war, mußte es nur Reviere umfassen, die verpachtet und nicht frei zugänglich waren, denn sonst hätten sich gerade am ersten Mai eine Menge Ausflügler dort befunden und wären längst auf mich gestoßen. Ich studierte stundenlang die Höhenrücken und Taleinschnitte, die vor mir lagen, aber ich entdeckte keine Spur von menschlichem Leben. Entweder ging die Wand quer über das Gebirge, oder es gab tatsächlich in dem ganzen Massiv nur mich. Das letztereklang ein wenig unwahrscheinlich, aber es war nicht unmöglich. Am Vorabend eines Feiertages mochten alle Waldarbeiter und Jäger zu Hause gewesen sein. Außerdem schien es mir, daß in mein Revier immerfort Hirsche überwechselten, die ich nie zuvor gesehen hatte. Früher einmal waren mir alle Hirsche gleich erschienen, aber im Lauf eines Jahres hatte ich gelernt, meine Hirsche von fremden Hirschen zu unterscheiden. Irgendwo mußten diese Fremdlinge ja herkommen. Zumindest ein Teil des Gebirges mußte frei geblieben sein. In den Kalkfelsen sah ich manchmal Gemsen, aber nicht viele, die Räude hatte um sich gegriffen.
Ich entschloß mich, kleinere Erkundungsausflüge zu unternehmen, und fand einen Steig im Latschengebiet, den ich zu begehen wagte. Wenn ich um sechs Uhr nach dem Frühmelken aufbrach, konnte ich vier Stunden weit ins Gebirge gehen und immer noch bei Tageslicht zurückkommen. An solchen Tagen pflockte ich Bella und Stier an, aber die Sorge um sie verfolgte mich überallhin. Ich drang in mir völlig unbekannte Reviere ein, fand ein paar Jagd- und Holzknechthütten, aus denen ich noch brauchbare Dinge mitnahm. Der glücklichste Fund war ein kleiner
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