Die Wand
Nebel hing in den Buchen. Kein einziger Salamander zeigte sich, sie schliefen wohl unter den feuchten Steinen. In diesem Sommer hatte ich noch keine gesehen, nur grüne und braune Eidechsen auf der Alm. Einmal hatte Tiger eine von ihnen totgebissen und vor meine Füße gelegt. Er hatte ja die Gewohnheit, mir alle Beutetiere zuzutragen: riesige Heuschrecken, Käfer und schillernde Fliegen. Die Eidechse war sein erster großer Erfolg gewesen. Erwartungsvoll sah er zu mir auf, das Licht spiegelte sich goldgelb in seinen Augen. Ich mußte ihn loben und streicheln. Was hätte ich tun sollen? Ich bin nicht der Gott der Eidechsen und nicht der Gott der Katzen. Ich bin ein Außenseiter, der sich besser gar nicht einmischen sollte. Manchmal kann ich nicht widerstehen und spieleein bißchen Vorsehung; ich rette ein Tier vor dem sicheren Tod oder schieße ein Stück Wild, weil ich Fleisch brauche. Aber mit meinen Pfuschereien wird der Wald leicht fertig. Ein neues Reh wächst heran, ein anderes Tier rennt ins Verderben. Ich bin kein ernst zu nehmender Störenfried. Die Nesseln neben dem Stall werden weiterwachsen, auch wenn ich sie hundertmal ausrotte, und sie werden mich überleben. Sie haben soviel mehr Zeit als ich. Einmal werde ich nicht mehr sein, und keiner wird die Wiese mähen, das Unterholz wird in sie einwachsen, und später wird der Wald bis zur Wand vordringen und sich das Land zurückerobern, das ihm der Mensch geraubt hat. Manchmal verwirren sich meine Gedanken, und es ist, als fange der Wald an, in mir Wurzeln zu schlagen und mit meinem Hirn seine alten, ewigen Gedanken zu denken. Und der Wald will nicht, daß die Menschen zurückkommen.
Damals, im zweiten Sommer, war es mit mir noch nicht so weit gekommen. Die Grenzen waren noch streng gezogen. Es fällt mir schwer, beim Schreiben mein früheres und mein neues Ich auseinanderzuhalten, mein neues Ich, von dem ich nicht sicher bin, daß es nicht langsam von einem größeren Wir aufgesogen wird. Aber schon damals bahnte die Verwandlung sich an. Die Alm war schuld daran. Es war fast unmöglich, in der summenden Stille der Wiese unter dem großen Himmel ein einzelnes abgesondertes Ich zu bleiben, ein kleines, blindes, eigensinniges Leben, das sich nicht einfügen wollte in die große Gemeinschaft. Einmal war es mein ganzer Stolz gewesen, ein solches Leben zu sein, aber auf der Alm schien es mir plötzlich sehr armselig und lächerlich, ein aufgeblasenes Nichts.
Von meinem ersten Ausflug ins Jagdhaus brachte ich den letzten Rucksack voll Erdäpfel und Hugos mächtigeFlanellschlafanzüge mit auf die Alm. Die Nächte waren empfindlich kühl, und ich vermißte meine warme Steppdecke. Gegen fünf Uhr erreichte ich die Hütte, grau und regenglänzend lag sie vor mir. Plötzlich hatte ich das unbehagliche Gefühl, nirgendwohin wirklich zu gehören, aber nach einigen Minuten verlor es sich, und ich war wieder ganz auf der Alm zu Hause. Tiger schrie mich wütend an und wischte an mir vorbei ins Freie. Die Erdkiste war unberührt, und das Fressen hatte er verschmäht. Er mußte in arger Bedrängnis gewesen sein. Als er zurückkam, war er noch immer tief gekränkt, setzte sich in eine Ecke und zeigte mir sein rundliches Hinterteil. Auch seine Mutter pflegte mir ihre Verachtung auf diese Weise auszudrücken. Tiger aber war doch noch ein Kind und erlag schon nach zehn Minuten den Lockungen der Geselligkeit. Satt und versöhnt, schritt er endlich in den Kasten. Ich tat die Stallarbeit, trank ein wenig Milch zu meinen Mehlfladen und kroch in Hugos gewaltigem Schlafanzug ins Bett. Es war gut gewesen zu sehen, daß im Tal alles in Ordnung war. Das Jagdhaus stand auf seinem alten Platz, und ich konnte sogar hoffen, daß die alte Katze noch am Leben war. Als Kind hatte ich immer unter der närrischen Angst gelitten, daß alles, was ich sah, verschwand, sobald ich ihm den Rücken kehrte. Alle Vernunft hat nicht vermocht, mich ganz von dieser Angst zu heilen. In der Schule dachte ich an mein Elternhaus und konnte plötzlich an seiner Stelle nur einen großen leeren Fleck sehen. Später verfiel ich in nervöse Ängste, wenn meine Familie nicht zu Hause war. Glücklich war ich eigentlich nur, wenn sie alle in ihren Betten lagen oder wenn wir alle rund um den Tisch saßen. Sicherheit bedeutete für mich soviel wie sehen und berühren können. So erging es mir auch in jenem Sommer. War ich auf der Alm, zweifelte ich an derWirklichkeit des Jagdhauses, und war ich im Tal, löste sich in
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