Die Wand
es mir schwer, bei Tag zu träumen. Ich habe einen heftigen Widerwillen gegen Tagträume, und ich spüre, daß die Hoffnung in mir abgestorben ist. Es macht mir angst. Ich weiß nicht, ob ich es ertragen werde, nur noch mit der Wirklichkeit zu leben. Manchmal versuche ich, mit mir umzugehen wie mit einem Roboter: Tu dies und geh dorthin und vergiß nicht, das zu tun. Aber es geht nur kurze Zeit. Ich bin ein schlechter Roboter, immer noch ein Mensch, derdenkt und fühlt, und ich werde mir beides nicht abgewöhnen können. Deshalb sitze ich hier und schreibe alles auf, was geschehen ist, und es kümmert mich nicht, ob die Mäuse die Aufzeichnungen fressen werden oder nicht. Es kommt nur darauf an zu schreiben, und da es keine anderen Gespräche mehr gibt, muß ich das endlose Selbstgespräch in Gang halten. Es wird der einzige Bericht sein, den ich je schreiben werde, denn wenn er geschrieben ist, wird es im Haus kein Stückchen Papier mehr geben, auf das man schreiben könnte. Schon jetzt zittere ich wieder vor dem Augenblick, in dem ich zu Bett gehen muß. Dann werde ich mit offenen Augen liegen, bis die Katze nach Hause kommt und ihre warme Nähe mir den ersehnten Schlaf schenken wird. Selbst dann bin ich noch nicht in Sicherheit. Wenn ich wehrlos bin, können mich Träume überfallen, schwarze Nachtträume.
Es fällt mir schwer, mich in Gedanken zurückzufinden in jenen Sommer auf der Alm, der mir sehr unwirklich und fern erscheint. Damals lebten Luchs, Tiger und Stier noch, und ich war ahnungslos. Manchmal träume ich, daß ich die Alm suche und nicht mehr finden kann. Ich gehe durch Unterholz und Wald, auf holprigen Steigen, und wenn ich erwache, bin ich müde und zerschlagen. Es ist sonderbar, im Traum suche ich die Alm und im Wachen bin ich froh, wenn ich nicht einmal an sie denken muß. Ich möchte sie nie wieder sehen, nie wieder.
Es gab im August noch zwei oder drei Gewitter, sie waren aber nie sehr heftig und dauerten nur ein paar Stunden. Wenn mich manchmal ganz dumpf etwas beunruhigte, war es, daß alles so gut gegangen war. Wir waren alle gesund, die Tage blieben warm und duftend, und die Nächte hingen voll Sterne. Schließlich, da weiterhinnichts geschah, gewöhnte ich mich an diesen Zustand und fing an, das Gute so gelassen hinzunehmen, als hätte ich nie etwas anderes erwartet. Vergangenheit und Zukunft umspülten eine kleine warme Insel des Jetzt und Hier. Ich wußte, daß es nicht so bleiben konnte, aber ich machte mir gar keine Sorgen. In der Erinnerung ist der Sommer überschattet von Ereignissen, die viel später eintraten. Ich spüre nicht mehr, wie schön es war, ich weiß es nur noch. Das ist ein schrecklicher Unterschied. Deshalb gelingt es mir nicht, das Bild der Alm zu zeichnen. Meine Sinne erinnern sich schlechter als mein Hirn, und eines Tages werden sie vielleicht ganz aufhören, sich zu erinnern. Ehe dies eintritt, muß ich alles niedergeschrieben haben.
Schon näherte sich der Sommer seinem Ende. In der letzten Augustwoche brach Schlechtwetter ein. Es wurde kalt und regnerisch, und ich mußte den ganzen Tag heizen. Damals verbrauchte ich zuviel Zündhölzchen, denn das Fallholz brannte sofort nieder, wenn ich die Hütte verließ. Bella und Stier blieben auf der Weide. Sie schienen nicht zu frieren, sahen aber weniger vergnügt aus als im Sommer. Tiger verbrachte eine unselige Woche in der Hütte, saß auf dem Fensterbrett und starrte vergrämt in den Regen. Ich verrichtete meine täglichen Arbeiten, und ganz langsam fing ich an, mich nach dem Jagdhaus zu sehnen, nach meinem Schlafrock, der Steppdecke und den knisternden Buchenscheiten. Jeden Mittag nahm ich den Lodenmantel, zog die Kapuze über und ging mit Luchs in den Wald. Ziellos wanderte ich unter den tropfenden Bäumen, ließ Luchs ein wenig stöbern, um ihn bei Laune zu erhalten, und kehrte fröstelnd zur Hütte zurück. Da ich sonst nichts zu tun hatte, ging ich früh schlafen, und je mehr ich schlief, desto schläfriger wurde ich. Ich ärgerte mich darüberund fing an, trübsinnig zu werden. Tiger wanderte klagend von der Küche zur Kammer und versuchte, mich zum Spielen zu verlocken, gab es aber überdrüssig selbst bald wieder auf. Nur Luchs kränkte sich nicht über den Regen und schlief, von unseren kurzen Ausflügen abgesehen, Tag und Nacht im Ofenloch. Endlich fing es sogar in riesigen, nassen Flocken zu schneien an. Bald waren wir mitten im ärgsten Gestöber. Ich zog mich an und führte Bella und Stier in den
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