Die Wanderbibel
übrigens mit dem Segen der Kirche – ein Monstrum aus dreißig Tonnen Beton und Stahl installiert. Eine aus zwei jeweils 24 Meter langen Stahlstegen bestehende und scheinbar ins Nichts ragende Aussichtsplattform bietet jetzt dem wohlig schauernden Besucher bei reichlich dosiertem Nervenkitzel einen »grandiosen, wenn nicht gar sensationellen« Blick in tausend Meter Tiefe und die Bergwelt – vor allem auf die Zugspitze.
Da die beiden futuristisch anmutenden Stege x-förmig angelegt sind, wurde dieses Juwel alpenländischer Architektur auf den – wow, wie trendy! – Namen »AlpspiX« getauft. Der Name Golgatha wäre da sicherlich nicht so cool, aber wesentlich zutreffender gewesen. Natürlich geht es mal wieder ums liebe Geld. Mit dem modernen »Bergerlebnis« will der Erbauer der Monstrosität, die Bayerische Zugspitzbahn Bergbahn AG, dem Vernehmen nach die Attraktivität des Alpspitzgebietes steigern. Mit der neuen Attraktion könne man nämlich »die unvergleichliche Bergwelt auch Familien mit Kindern, Senio ren und weniger trittsicheren Gästen einfach und bequem nahebringen«, wie ein Sprecher des Unternehmens meinte. Nur an ganz wenigen Orten wurden die Alpen schlimmer, wie soll man es ausdrücken: bearbeitet. Gut, dass Luis Trenker das nicht mehr miterleben muss!
Viele Gebiete in den Alpen setzen dagegen bewusst auf sanften Tourismus und verzichten darauf, großartige Attraktionen zu installieren, zumal die heimische Bevölkerung zunehmend rebelliert. Die Region Bregenzerwald oder einige Seitentäler im Westen Südtirols sind einige der rühmlichen Ausnahmen. Verarmt sind die Gegenden deshalb beileibe nicht, im Gegenteil: Sie erfreuen sich bei Wanderern und Sommerfrischlern immer größerer Beliebtheit. Vielleicht finden sich dort weniger superreiche Einwohner wie etwa im Berner Oberland, wo zum Glück ein Projekt an der Finanzierbarkeit gescheitert ist. Man grämte sich dort, dass die japanischen Touristen während ihres straffen Europe-in-Five-Days-Programms einen ganzen Tag für das Bummelbähnli auf das Jungfraujoch opfern müssten, weshalb man zusätzlich einen Expressaufzug installieren wollte – zum Glück zu teuer! Ich wette, die Gäste aus Fernost hätten auch weiterhin den Bummelzug genommen und die Deutschen die Hochgeschwindigkeitsvariante. Um ja nichts zu verpassen, hätten sich die Touristen aus dem großen Nachbarkanton vormittags die Fränkli auf dem Jungfraujoch aus der Tasche ziehen lassen und nachmittags auf dem Schilthorn, das Dank des James-Bond-Streifens »Im Geheimdienst Ihrer Majestät« fast so berühmt ist wie das Jungfraujoch. Die Stammkundschaft jedoch, welche über Jahre und Jahrzehnte hinweg mit ihren Wanderstiefeln einen sanften Tourismus betreibt, wird durch solche Prestigeobjekte eher vergrault.
Ausgerechnet eine der wohlhabendsten Schweizer Kom munen musste in den letzten Jahren erfahren, was Protest bedeutet, wie schnell sich E-Mail-Postfächer füllen und Leserkommentare sich häufen können, nämlich Zermatt. Dort gibt es neben dem Matterhorn auch das Kleine Matterhorn. Seit über dreißig Jahren schwebt eine Luftseilbahn von Zermatt auf das kleine Hörnli, das südlich gelegene Skigebiet wird als »Matterhorn glacier paradise« vermarktet. Ein Personenaufzug führt von der Bergstation schließlich auf den eigentlichen Gipfel. Hier ist also der höchste mit einer Seilbahn erreichbare Punkt der Alpen, womit man – ätsch! – die Franzosen mit ihrer Aiguille-du-Midi-Bahn um einige Meter geschlagen hat, deren Bergstation auf 3842 Metern Höhe liegt. Unter Alpinisten gilt deshalb das benachbarte Breithorn als Altweiber-Viertausender, den nun wirklich jeder erreichen kann. Damit nicht genug, denn dummerweise ist das »Chli Matterhorn« mit 3883 Metern Höhe gar kein Viertausender. Die Zermatter wollen ihn deshalb aufstocken, wie vor einigen Jahren schon mal das 3996 Meter hohe Fletschhorn, das eine vier Meter dicke Betonhaube bekommen sollte, nachdem ihm 1950 der Viertausender-Status aberkannt wurde. Heute übrigens wird die Höhe des armen Nicht-Viertausenders mit 3993 Metern angegeben. Beim Kleinen Matterhorn will man vielmehr einen Entwurf des Schweizer Künstlers Heinz Julen realisieren. Eine schlanke Pyramide soll auf dem Berg errichtet werden, samt einem Hotel und Aussichtsplattform. »Ich habe auf einem Viertausender übernachtet«, kann dann jeder Tattergreis, der die Fränkli auf den Tisch legt, von sich behaupten. Gefahrlos, versteht sich, denn der Luftdruck
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