Die Wanderbibel
kaufen, auf der möglichst alle Wanderwege eingezeichnet sind und jene Routen meiden, die die gängigen Wanderführer empfehlen. Einen einzigen Standardwanderfüh rer zu kaufen, reicht aus, die Überschneidungen betragen gut 80 Prozent. Man hat sogar den Eindruck, die Verfasser stimmten sich untereinander ab, welche Routen sie besser für sich behalten.
Die schönsten Wanderungen sind übrigens oft die unge wollten, diejenigen, die man aus Verlegenheit unternimmt. Ich erinnere mich lebhaft an meine schmerzende Lendenwirbelsäulen-Muskulatur nach einem Tag Autofahrt. Auf dem Ofenpass machten wir ein vermeintlich kleines Päuschen. »Schau mal, da kann man eine kleine Wanderung machen«, sagte ich zu Anja, »keine Stunde und wir sind auf dem Il Jalet«, was sich als eine Art Miniberg herausstellte, ein Gipfelchen, das ich mir gerne in den Vorgarten gestellt hätte. Eineinhalb Stunden flanierten wir, meine Lendenwirbelsäule erholte sich. Das Überraschende an diesem Berg: Überall sahen wir Felsformationen, die an Loriots Knollennasenmännchen erinnerten. Und das ganz und gar nicht unbeliebte Berglein, knapp 250 Meter über der Passhöhe, war übersät mit Edelweiß. Es muss also nicht jedes Mal eine Tagestour oder ein Dreitausender sein, »gesegnet sei der, der nichts erwar tet, denn er wird nie enttäuscht werden« (Alexander Pope).
Von Hanspaul Menara also ließen wir uns eine Wanderung empfehlen. Im Schatten der beliebten und noch vergletscherten Suldenspitze steht der felsige Nachbar mit dem gar nicht treffenden Namen Eisseespitze. Jedenfalls von Sulden aus betrachtet. Wieder gingen wir früh los, wenn auch erst um halb acht, der Wetterbericht versprach stabiles Wetter für den 9. Juli 2008. Erst das übliche Aufwärmtraining für Frühaufsteher und Seilbahnabstinente: Im Laufschritt ging es die Serpentinen bis zur rosa Schaubachhütte hoch. Kurz vor der Hütte bemerkten wir eine Reihe von Geländefahrzeugen hinter uns, die vollbepackt mit bunten Jungs an uns vorbeidieselten. Oben an der Hütte stiegen die Burschen aus, läuteten mit ihren Karabinern, präsentierten Hochtourenklamotten, Seil und Gletscherwerkzeug frisch aus dem Outdoor-Laden und dieselten alsbald weiter bis an den Gletscherrand, wo sie sich auf die weithin sichtbare Spur zur Suldenspitze begaben, eine Ameise folgte der nächsten.
Wir folgten ihnen zu Fuß ein Stück weit bis zum Abzweig des »Stecknersteiges«, ein mit grünen Punkten markierter Bergweg aus griffigem Fels, groben Blöcken und steilen Serpentinen. Knappe zwei Stunden benötigten wir von der Schaubachhütte zum Gipfel. Kurz unterhalb beginnt dann der »Eissee«: Auf der Südseite erstreckt sich der Langenferner, und mit etwas Fantasie glaubt man, in wenigen Schritten durch den Schnee bis auf den Monte Cevedale flanieren zu können oder noch weiter bis zur Punta San Matteo.
Drüben, auf der Suldenspitze, drängten sich mehrere Dutzend Bergsteiger, hier oben waren wir allein und sonn ten uns hinter der Felsmauer, die andere vor uns aufgeschichtet hatten. Etwas windig war’s, wenn wir aufstanden. Wir hielten Brotzeit und genossen das Panorama: Nirgends, aber auch nirgends, wirkt die Königsspitze schöner als von der Eisseespitze. Weshalb dieser Eismuggel von Suldenspitze so beliebt ist, bleibt uns ein Rätsel. Von hier ist der »Kini« weit eleganter, eine perfekte, spitze Pyramide. Von der Eisseespitze hat man einen herrlichen Blick auf die Gipfelwächte, genannt »Schaumrolle«. »Und was ist die Latscherei übers Eis in langen Schlangen gegen unsere Blümchen«, sagte Anja, »gegen die lila Primelchen und den vielen Gletscher-Hahnenfuß in weiß und rosa«, wie sie in ihrem Tagebuch vermerkte.
Noch einmal kommen wir auf Toni Hiebeler zurück. Eine seiner Lieblingsgegenden waren die Julischen Alpen, zu seinen Lebzeiten geschützt vor dem Einfall der Teutonen durch gut bewachte Grenzen an steilen Pässen, wie zum Beispiel dem Wurzenpass mit bis zu 19 Prozent Steigung. Das von Jugoslawien unabhängige Land Slowenien lernte Hiebeler nicht mehr kennen. Nach einem zehn Tage währenden Krieg im Sommer 1991, in dem die Slowenen erfolgreich die jugoslawische Armee abwehrten, avancierte das kleine Land schnell zu einem Geheimtipp unter Wanderern. Heute muss man dort die Geheimtipps mit der Lupe suchen. Genau betrachtet bieten die Julier auf kleinstem Raum derart viele Naturschönheiten, dass das Land mit den schlohweißen Felsriesen der Julier und den lieblichen Karawankenbergen
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