Die Wanderbibel
Tourismusindustrie das noch nicht so ganz realisiert hat, zeigen drei Beispiele. Als da wäre beispielsweise der sagenumwobene Mummelsee, Endziel vieler Touren dank seiner Bushaltestelle.
Seinen eigentümlichen Namen verdankt dieser See den weißen Seerosen, im Volksmund »Mummeln« genannt, die früher zahlreich im See vorkamen, wohlgemerkt: frü her. Mit 800 Meter Umfang ist er der größte, mit 17 Meter Tiefe der tiefste und mit 1036 Meter Höhenlage der höchste der sieben Karseen des Schwarzwaldes.
Glaubt man den alten Sagen, sollen früher Nixen und Zwerge und obendrein auch noch ein König im Mummelsee ihr Unwesen getrieben haben. Sagen, die den schwäbischen Lyriker Eduard Mörike zu seinem berühmten Gedicht »Die Geister am Mummelsee« inspiriert haben.
Die heutigen Geister vom See schweben keineswegs »in leisen Gebeten … herunter ins Mummelseetal« wie bei Mörike. Nein, sie sind grell, bunt und laut und vor allem sind es entsetzlich viele, denn schon seit den dreißiger Jahren gehört der See dank seiner malerischen Lage, seines Hotels, seiner zwei Restaurants nebst Lebens mittel- und Souvenirladen plus Tretbootverleih zu den beliebtesten Ausflugszielen für Tagestouristen in Süd deutschland. Mehr als eine Million Besucher pro Jahr spre chen eine deutliche Sprache.
Was einen am Mummelsee erwartet, ist eine Mischung aus Jahrmarkt, Panoptikum und Tollhaus: Da stürzen sich ganze Busladungen schwäbischer Gesangsvereine ohne Rücksicht auf Verluste auf die Verkaufsstände mit Kirschwasser, geräuchertem Schinken und anderen Schwarzwaldspezialitäten, um später dann die Toiletten des direkt am See gelegenen Hotels über Stunden zu blockieren. Übel gelaunte Kinder jeglichen Alters versuchen ihre ohnehin schon bis zum Anschlag genervten Eltern quengelnd von der Notwendigkeit zu überzeugen, doch bitteschön endlich eines der auf dem See reichlich vorhandenen Tretboote zu mieten. 150-Kilo-Matronen verputzen das sechste Stück Schwarzwälder Kirschtorte und ermahnen ihre nicht minder korpulenten Ehemänner lautstark, es doch jetzt mit dem Bier wirklich gut sein zu lassen. Esoterisch angehauchte Volkshochschulkurse unter Leitung eines frühpensionierten Kunstlehrers wiederum eilen zum rund um den See führenden »Kunstpfad«, auf dem Kunstwerke von modernen Künstlern installiert und somit sozusagen in die Natur eingebunden sind. Einzelwanderer in Kniebundhosen versuchen verzweifelt in Erfahrung zu bringen, wann und wo der Bus abfährt, der sie wieder sicher zum Ausgangspunkt ihrer Wanderung zurückbringen soll.
Und auch die direkt am Hotel vorüberführende Schwarz waldhochstraße – schöne Kurven, schöne Landschaft, geradezu ein Eldorado für Motorradfreaks jeglicher Couleur – liefert ihren Beitrag zum Tollhaus Mummelsee. Lassen doch ganzkörpertätowierte Rocker mit Wehrmachts stahlhelm auf den fettigen Haaren auf dem riesigen Parkplatz vor dem Hotel ihre heißen Öfen genauso aufheulen wie der Sugardaddy-Zahnarzt jenseits der Fünfzig, der sich hier offensichtlich mit funkelnagelneuer Harley Davidson und silikonverstärkter Zahnarzthelferin einen Jugendtraum erfüllt. Und wenn man genau hinschaut, dann kann man vielleicht noch zwei völlig verschüchterte Wanderer entdecken, die gerade vom Westweg gekommen sind und denen man deutlich ansehen kann, dass sie der festen Überzeugung sind, irgendein Schwarzwälder Scotty oder Captain Kirk hätte sie gerade nach Las Vegas gebeamt. Was in ihrem Kopf vorgeht, ist klar: »Nichts wie weg hier, einmal und nie wieder!«
Im Mai 2007 brannte das hundert Jahre alte Hotel am Mummelsee bis auf die Grundmauern ab. Verantwortlich für dieses Fiasko war nicht, wie böse Zungen behaupten, eine der Seenixen, die endlich ihre Ruhe vom alltäglichen Trubel haben wollte, sondern eine brennende Zigarette, die wohl aus einem Fenster geschnippt wurde und dummerweise unter einem der hölzernen Dachziegel landete. Seit Frühjahr 2010 erstrahlt das Mum melseehotel wieder in neuem Glanz. Noch schöner, noch größer, noch besucherfreundlicher und mit knallbunter Kuh in Lebensgröße vor dem Haupteingang. Von einem peinlichen Neptun-Sandsteinrelief samt barbusigen Nixen ganz zu schweigen. Die Geister vom See wird’s wohl nicht freuen.
Auch in den Alpen macht sich die Tourismusindustrie bei Wanderern, also beim größten Teil der potenziellen Kundschaft, nicht immer und überall Freunde. Im Juli 2010 wurde rund fünfzig Meter oberhalb der Bergstation der Alpspitzbahn –
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