Die Wanderhure
die aus der Dunkelheit zu ihnen drangen, waren nicht dazu angetan, ihre Furcht zu mindern.
Die nächsten Tage ernährten sie sich von rohen Wurzeln und Baumschwämmen und kauten Baumharz, wenn sie nichts anderes fanden, denn sie trauten sich immer noch nicht, Feuer zu machen und ihr letztes Mehl zu verbacken. Zuletzt waren sie jedoch beide so erschöpft, dass ihre Beine sie nicht mehr tragen wollten. So wählten sie eine dicht bewaldete Schlucht als Zufluchtsort.
Im Schutz einer überhängenden Wand flochten sie eine Hütte aus Zweigen und belegten das Dach mit großen Moosplatten und Grasbüscheln, um sich gegen den Regen zu schützten, denn das sonnige Wetter der letzten Tage hatte tief hängenden Wolken Platz gemacht. Zuerst war ihre Laune genauso trübsinnigwie der Himmel, doch als in ihrem Unterschlupf ein kleines Feuer brannte und sie an den ersten, viel zu heißen Mehlfladen knabberten, hellte sich ihre Stimmung auf, und sie genossen eine Suppe aus Wildgräsern und klein gehackten Baumschwämmen, die ihr erstes warmes Essen seit mehr als einer Woche abrundete. Ihnen kam es vor wie ein Festmahl.
Hiltrud war zufrieden mit ihrem Versteck, denn soweit sie es von dem kahlen Höhenzug über der Schlucht hatten erkennen können, lag die nächste menschliche Siedlung mehrere Wegstunden entfernt jenseits der Berge auf den Rhein zu. Hiltrud glaubte, die Ansiedlung, deren Rauchfahnen sie gesehen hatten, vom Hörensagen zu kennen. Dort sollten jene Männer leben, die die hohen Bäume des Schwarzwalds fällten und als Bauholz bis nach Köln flößten. Der Fluss, dem das kleine Bächlein aus ihrem Tal zueilte, musste die Alb sein, die bei Mühlheim in den Rhein mündete.
Der Strom war auch ihr Ziel, wie Hiltrud Marie erklärte. Sie wollte den Wald jedoch nicht eher verlassen, als bis Gras über die Sache mit dem Riedburger gewachsen war, und erst noch eine Weile nach Süden wandern, um nicht an einer Stelle auf den Rhein treffen, die von der Riedburg aus in weniger als zwei Tagesritten zu erreichen war. Marie stimmte allem zu, was Hiltrud vorschlug, denn sie war immer noch mit sich selbst beschäftigt. Die Begegnung mit den Söldnern und ihre grauenhaften Folgen lasteten schwer auf ihrer Seele.
Als die beiden Freundinnen nach einigen Tagen das Horn eines Schweinehirten vernahmen, gaben sie ihre Unterkunft auf und zogen noch tiefer in einen Wald, der immer düsterer und unwegsamer wurde. Hie und da trafen sie auf den Unterstand eines Schweinehirten oder Harzsammlers, wagten aber nicht, die Hütten zu benutzen, aus Angst, man könne ihre Spuren verfolgen. So bauten sie sich abends notdürftige Windschirme aus Gestrüpp und Birkenreisig. Hiltrud war es im Lauf ihrer Wanderung gelungen, ihren Speisezettel mit Hilfe einer Schlinge, die sie aufWildwechseln auslegte, zu bereichern. Es gab Hasenbraten und einmal sogar ein junges Reh, aus dessen Knochen sie zuletzt noch eine nahrhafte Suppe kochten. Obwohl Marie und Hiltrud immer besser mit dem zurechtkamen, was der Wald ihnen bot, und genug Wurzeln, Knollen und Baumschwämme fanden, um jeden Tag satt zu werden, sehnten sie sich schon bald nach einem Stück Brot. Das Verlangen steigerte sich von Tag zu Tag, bis Hiltrud von frischen Brotlaiben träumte und morgens behauptete, sie würde sich für eine Scheibe davon jedem Mann hingeben. Marie lachte sie aus, doch sie musste zugeben, dass es ihr kaum anders erging.
Obwohl sie aus lauter Angst vor dem Riedburger und seinen Söldnern allen Menschen auswichen, bestand Hiltrud immer darauf, dass sie beide die Hurenbänder trugen. Die Gefahr, ohne ihr Standeszeichen erwischt zu werden, war ihr einfach zu groß. Die Stadtbüttel pflegten allein reisende Frauen ohne Hurenbänder oft der Unzucht zu bezichtigen und nach der raschen Aburteilung durch einen willfährigen Stadtrichter zum Vergnügen der Gaffer öffentlich auszupeitschen.
Im Gegensatz zu Hiltrud hielt Marie wenig von dieser in ihren Augen übertriebenen Vorsicht, denn die gelben Bänder machten es ihrer Ansicht nach unmöglich, sich unauffällig einer der verstreut im Wald liegenden Siedlungen zu nähern und dort Vorräte einzukaufen. Sie war zu der Überzeugung gelangt, dass sie nichts mehr zu befürchten hatten, denn weder Siegward von Riedburg noch einer seiner Männer würde sie auf den ersten Blick erkennen. Ihre hellen Haare hatten sie mit dem Absud von Pflanzen und Baumschwämmen dunkel gefärbt. Auch wirkten ihre Gesichter durch das stetige Einreiben mit
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