Die Wanderhure
Diebin abgeführt und eingekerkert. Da der Strick um ihre Handgelenke sie am Boden festhielt, zog sie ihre Beine dicht an den Körper, legte den Kopf auf die Knie und versuchte zu beten.
»Heilige Jungfrau Maria, du weißt, dass ich mich nicht der Wollust schuldig gemacht habe. Vor dieser Nacht hat mich niemand auf eine Weise berührt, für die eine Jungfrau sich schämen müsste. Ich bin keine Hure, das weißt du, und ich habe nie ein Geschenk für eine Sünde angenommen. Oh mein Gott, warum hat man mich so verleumdet?« Heftiges Schluchzen erstickte ihre Worte.
Immer wieder fragte sie sich, warum die beiden Männer falsches Zeugnis gegen sie abgelegt hatten. Sie hatte weder den Fuhrmann noch Linhard beleidigt oder ihnen etwas Schlechtes nachgesagt. Mit dem Schreiber hatte sie nur wenig zu tun gehabt, da er sich um die Handelsgeschäfte gekümmert hatte und oft auf Reisen gewesen war. Auch Utz Käffli hatte sie nur hie und da einmal gesehen, wenn er im Auftrag ihres Vaters Waren brachte oder abholte. Sie hatte versucht, sich von ihm fern zu halten, denn er führte schlechte Reden im Mund und schien sich über jeden Menschen lustig zu machen.
Hatte der Fuhrmann ihr ihre Scheu so übel genommen, dass er sich das Ganze hier ausgedacht hatte, um sie zu demütigen? Oder gönnte Linhard ihr den hochgestellten Bräutigam nicht und hatte den Fuhrmann zu dieser Tat angestiftet? Aber die beiden Männer wussten doch, dass sie die Wahrheit ihrer Behauptungen angesichts des Kreuzes vor einem Richter beschwören mussten.
Bei dem Gedanken an das Gericht, vor dem sie morgen stehenwürde, holte Marie tief Luft. Eigentlich konnte ihr gar nichts passieren, denn am Morgen würde eine Matrone sie untersuchen und feststellen, dass sie noch Jungfrau war. Linhard und Utz würden als Verleumder dastehen, und wenn sie falsch geschworen hatten, würde das Gericht sie zu einer grausamen Strafe verurteilen, Meineidige hatten keine Gnade zu erwarten.
Nachdem sie sich klar gemacht hatte, dass ihr keine Gefahr drohte, fragte Marie sich, wieso Magister Ruppertus den Behauptungen der beiden Männer so rasch Glauben geschenkt hatte. Hatte er schon bereut, um sie angehalten und den Ehevertrag geschlossen zu haben, und war froh gewesen, von der Heirat zurücktreten zu können? Oder war es nur seine erste Empörung gewesen? Wahrscheinlich wurde ihm jetzt bewusst, dass er durch seine vorschnelle Reaktion auf ein Vermögen verzichten müsste, und er würde ganz besonders daran interessiert sein, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Schon aus Eigennutz würde er ihr helfen.
Marie wünschte sich einmal mehr, ihr Vater hätte einen anderen Gatten für sie gewählt, dann wäre das alles nicht passiert. Da tauchte Michels Gesicht vor ihren Augen auf, und sie erinnerte sich daran, dass er sie vor dem Magister hatte warnen wollen. Ob der Freund ihrer Kindertage ein liebevollerer Bräutigam gewesen wäre?
In dem Moment schob jemand draußen den Riegel zurück und steckte einen Schlüssel ins Schloss. Marie war erleichtert. Jetzt kamen ihr Vater und ihr Bräutigam, um sie zu holen! Also war doch alles nur ein Streich gewesen, um sie für ihre Widerspenstigkeit zu bestrafen. Der Schlüssel drehte sich ganz langsam, fast lautlos, und die Tür öffnete sich ohne Geräusch. Draußen flüsterte jemand, dann flammte Licht auf, so als wären mehrere Fackeln angezündet worden.
Jetzt konnte Marie sehen, in welch schmutziges Loch man sie geworfen hatte. Die Wände ihres Kerkers bestanden aus roh behauenenSteinquadern, die so groß waren, dass selbst ein kräftiger Mann keinen von ihnen herausbrechen konnte, und sie waren ebenso wie die Decke mit einer dicken Schicht Spinnweben überzogen. Unrat bedeckte den Boden; nur an ein oder zwei Stellen konnte man erkennen, dass er aus gestampftem Lehm bestand. Marie schüttelte sich und blickte erwartungsvoll zur Tür.
Zu ihrer Enttäuschung erschien Hunold in der Türöffnung. Er hob seine Fackel und sah sie grinsend an. Dann drehte er sich um, zerrte Linhard nach vorne und gab ihm einen Stoß, dass er quer durch den Raum stolperte. Der Schreiber schwankte wie ein Betrunkener, und sein Gesicht war verzerrt, als litte er Todesangst. Der Büttel trat zur Seite und ließ nun auch Utz eintreten. Der Fuhrmann steckte seine Fackel in einen dafür vorgesehenen Ring, sah Marie an, als wollte er sie mit den Augen verschlingen, und ließ seine Zunge über die Lippen gleiten. Marie spürte, wie ihr übel zu werden drohte, und wandte
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